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Hanns-Josef Ortheil erzählt ein weiteres Stück seiner Kindheit

Er schreibt im Schnitt ein Buch pro Lebensjahr. Nun hat der 73-jährige Hanns-Josef Ortheil seinen nächsten Roman vorgelegt: “Schwebebahnen” spielt in Wuppertal – und greift erneut Kindheit und Jugend des Autors auf.

Er möchte “nichts, aber auch gar nichts Besonderes” sein. Denn: “Bleibt man normal, gehört man dazu und wird nicht beschimpft.” Doch an dem sechsjährigen Josef ist fast gar nichts “normal”. Eigentlich will er immer nur Klavier spielen und kleine Geschichten aufschreiben. Die Schule in Köln machte ihm Angst, weshalb seine Eltern mit ihm nach Wuppertal gezogen sind, um einen Neuanfang zu wagen.

So das Ausgangsszenario des neuen Romans “Schwebebahnen” von Hanns-Josef Ortheil (73). Wie so häufig bei dem Bestsellerautor (“Das Kind, das nicht fragte”) enthält der Plot stark autobiografische Motive, denn auch Ortheil war schon früh ein begabter Pianist und zog mit seinen Eltern – wie bei Josef ein Vermessungstechniker bei der Bahn und eine Bibliothekarin – nach Wuppertal.

Seine Hauptfigur Josef lernt dort die Tochter des Gemüsehändlers von gegenüber kennen; die Freundschaft zu “Mücke” wird für den extrem scheuen Jungen zum wichtigen Anker. Das zweite Lachen, das ihm das fremde Wuppertal entlockt, ist die Schwebebahn: “Der Schwebebahnflug ist ein einziges großes Abenteuer, eines der größten, das er bisher erlebt hat!” Das Motiv des Schwebens und Fliegens durchzieht den Roman.

Bemerkenswert, dass Josef vielen Menschen begegnet, die ihn fördern wollen. Ein Trainer erkennt ihn als begabten Langstreckenläufer. Die Patres vom Kreuzherrenorden nehmen ihn in die Schola auf, wo er gregorianische Choräle singt. Pater de Kok bringt Josef lautes Vortragen von Texten bei und macht ihn zum Messdiener.

Mehr noch: “Josef geht den Weg eines Berufenen. Gott hat ihn ins Auge gefasst und gesagt: Josef, folge mir nach!”, so der Priester. “Und ich sage Ihnen bereits jetzt, wohin sein weiterer Weg führt. Er wird in Köln Theologie studieren und Priester werden.” Doch die Mutter lehnt entschieden ab. Und auch Josef mag nicht “Bischof oder Kardinal werden”, wie er seiner Freundin Mücke versichert, mit der er im Kommunionunterricht über die Frage nachdenkt, ob der Messwein bei der Wandlung wirklich zu Blut wird. “Von ganz oben bewacht ein großes Auge die Welt”, denkt Josef. “Es gehört dem lieben Gott, den Josef im Kommunionunterricht besser kennenlernen und mit dem er sich unterhalten möchte.”

Ortheil erzählt in Episoden und streut auch Briefe der Mutter an ihre Schwester ein, wahrt jedoch strikt die personale Erzählperspektive des Jungen und schildert seine Gefühle und Gedanken. Manchmal gerät das Buch fast zum Schelmenroman, wenn Josef und Mücke die Flucht vor einer Bande Jungs nur gelingt, weil sie sich auf Italienisch verständigen und als “Siciliani” ausgeben.

Ein wichtiger Teil seiner Welt wird der Gemeindesaal, wo er ungehindert Klavier üben kann, ohne die Nachbarn zu stören, und gemeinsam mit der Mutter in der Pfarreibibliothek arbeitet. Er erhält Kompositionsunterricht, denn alles ist für ihn Klang: Beim Tauchen im Schwimmbad hört er “Wassermusik”, selbst die Natur, Brücken oder Züge erlebt er in Tönen. Bachs Goldbergvariationen, eine der schwierigsten Kompositionen der Klavierliteratur, spielt er aus dem Kopf, nachdem er im Plattenladen einmal die von Glenn Gould eingespielte Version gehört hat.

Der Autor führt seine Leserschaft in die Welt der jungen Bundesrepublik, als die Menschen einen baldigen Dritten Weltkrieg fürchteten, Männer mit Kriegsverwundungen das Straßenbild prägten und Fernsehgeräte oder Autos rar waren. Beim Nachbarn sieht Josef die damals beliebte Quizsendung “Hätten Sie’s gewusst?”, oder wie “ein aufgedrehter älterer Mann vom Bergsteigen” erzählt, mutmaßlich Luis Trenker. Mückes Mutter Sira ist “Gastarbeiterin”, die sich so sehr nach dem fernen Sizilien sehnt und “ihrem Giuseppe” nicht nur Kochrezepte, sondern auch Italienisch beibringt.

Dagegen ist das Verhältnis zu seiner eigenen Mutter merkwürdig kühl und distanziert, sie umarmt oder küsst ihn selten, was dem Jungen erst durch den Umgang mit Mückes Mutter auffällt. Warum genau, bleibt im Dunkeln. Dass die Rektorin des Jungen untersuchen will, warum Josef so verschlossen und “besonders” ist, lehnt seine Mutter strikt ab. “Ich glaube zu wissen, dass sein Verhalten auch mit mir und dem Verhalten meines Mannes zu tun hat”, sagt sie der Lehrerin. “Es geht um Ereignisse in der Vergangenheit, über die mein Mann und ich nicht mehr reden. Sie haben sich während des Krieges und in den ersten Jahren der Nachkriegszeit ereignet.”

Ortheils eigene Eltern hatten durch tragische Umstände vier Söhne verloren, was der Autor in mehreren seiner Bücher thematisiert hat. Sein neues Buch gibt Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt eines sehr außergewöhnlichen Jungen. Seinen besonderen Charme entfaltet “Schwebebahnen” sicher für Menschen, denen die Schauplätze wie auch die geschilderte Ära nicht fremd sind.