Eine Plastiktüte mit den wichtigsten Dokumenten und ein paar wenige Sachen – mehr hatte Halyna Federovna nicht dabei, als sie ihr Dorf im Donezker Gebiet im Osten der Ukraine verlassen musste. Warme Kleidung für den bevorstehenden Winter? Fehlanzeige. Über einen Keller in Bachmut ging es schließlich nach Dnipro. „Die Caritas hat uns damals angezogen“, erinnert sich die 83-Jährige in ihrer heutigen Wohnung an die Flucht vor dem Krieg.
Inzwischen lebt die ehemalige Verkäuferin und Kleinbäuerin mit ihrem 65 Jahre alten und behinderten Neffen Kolya in einer Einzimmerwohnung im Osten von Dnipro – immer in Angst, wieder rausgeworfen zu werden. Eine ihrer beiden Renten reicht gerade so für die Wohnungsmiete, vom Rest leben sie. Von ihrem einstigen Haus im Donezker Gebiet stehe inzwischen bis auf das Fundament nichts mehr, erzählt die alte Frau. Alle rund 2.000 Einwohner seien geflohen, nachdem die russische Armee das Dorf unter Beschuss nahm.
Die meisten mussten aus russisch besetzten Gebieten fliehen
Caritas-Pflegerin Tatyana kam anfangs täglich in die kleine Wohnung in Dnipro, um nach der alten Dame und ihrem behinderten Neffen zu schauen. Inzwischen ist sie noch zwei Mal pro Woche hier. Insgesamt 15 Menschen betreut Tatyana in der Stadt, darunter eine 99-jährige Frau. Die meisten von ihnen sind wie Halyna aus den nun russisch besetzten Gebieten geflohen. Auch Tatyana selbst ist einer von Millionen Binnenflüchtlingen in der Ukraine, sie kommt eigentlich aus Awdijiwka.
Der Bedarf an Hilfe ist allenthalten groß. Die UN beziffern die Zahl der auf humanitäre Hilfe angewiesenen Ukrainer auf 14,6 Millionen. Die Leiterin der Caritas-Hauskrankenpflege in Dnipro, Tatyana Schuch, kann das nur bestätigen: Immer wieder müsse Bedürftigen abgesagt werden, weil die Kapazitäten einfach nicht reichten. Und: „Die psychische und physische Belastung für unsere Mitarbeiterinnen ist so groß, dass viele selbst krank werden und die Situation dadurch noch dramatischer wird.“ Gebraucht würden mehr Sozialarbeiter, aber auch Psychologen, sagt Tatyana Schuch.
„Werden sie unser Dorf wieder aufbauen?“
Die 83-jährige Halyna hat trotz aller Mühsal die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Hause noch nicht aufgegeben: „Werden sie unser Dorf wieder aufbauen“, fragt sie. Doch aktuell ist daran nicht zu denken. Der Krieg dauert an, die betreffenden Gebiete sind von russischen Truppen besetzt.
Für die Menschen in Possad Pokrowske im Gebiet Cherson in der südlichen Ukraine ist die Hoffnung auf Wiederaufbau schon realer: Auf Bauzäunen ist das Bild eines wiederaufgebauten Dorfes mit modernem Antlitz und neuer Schule zu sehen. In den ersten Kriegsmonaten geriet das Dorf unter Beschuss, die russischen Truppen standen nur einen Kilometer entfernt, nahezu alle Häuser wurden zerstört. Nun können die 800 zurückgekehrten von ehemals 3.000 Dorfbewohnern mit dem Staat einen Vertrag schließen, der wie in fünf weiteren Orten in den Gebieten von Charkiw und Cherson den Wiederaufbau bis Ende 2025 verspricht.
Nachweis des Grundbesitzes ist schwierig in Kriegszeiten
Voraussetzung dafür ist allerdings der Nachweis des Grundbesitzes. Das ist gar nicht so einfach in den Wirren von Krieg, Flucht und Rückkehr. Die 65 Jahre alte Larissa fühlt sich damit komplett überfordert. Vor einem Jahr erst hat sie ihren Sohn begraben, der in der ukrainischen Armee gefallen ist. Jetzt ist sie zurück in ihrem Dorf, aber Fenster und Türen am Haus sind kaputt, auch das Dach. Die Papiere zum Nachweis ihres Grundbesitzes hat sie nicht vollständig zusammen.

Für diesen und viele andere ähnlich gelagerte Problemfälle kommt der Jurist Alexander von der ukrainischen Hilfsorganisation East SOS einmal die Woche ins Dorf, berät und hilft. East SOS ist Partner der deutschen Diakonie Katastrophenhilfe in der Ukraine. Sein Büro hat Alexander im einstigen Polizeirevier: „Der einzige Ort hier, wo es Licht und Strom für den Laptop gibt.“
Hoffnung auf Rückkehr ist noch da
Das Beschaffen der Papiere ist für die Menschen mühsam, aber viele haben zumindest ein wenig Hoffnung – auch wenn sie nicht an einen Wiederaufbau von Possad Pokrowske bis 2025 glauben. Für Halyna in Dnipro ist Ähnliches nicht absehbar, die Rückkehr in ihren Heimatort im Donezker Gebiet mehr als ungewiss. Aber loslassen kann sie auch nicht. „Jede Nacht träume ich von dem Dorf“, sagt sie mit tränenerstickter Stimme.