Mit der neuen Kleiderordnung kommen die Stars in Cannes noch nicht zurecht. Vor allem der Hang zum Kleiderschleppen erweist sich als Stolperstein. Der Wettbewerb aber glänzt mit kraftvollen, sehr vielfältigen Beiträgen.
Eigentlich sollte es über die Etikette bei den abendlichen Premieren in Cannes keine Diskussion mehr geben. Denn in diesem Jahr hält man es mit jedem Ticket schwarz auf weiß in Händen: Für Männer ist ein Smoking oder zur Not auch ein nachtblauer Anzug mit Fliege obligatorisch; bei Frauen wird zur Not auch das “kleine Schwarze” akzeptiert, aber bitte nicht zu freizügig.
Doch wie viel Stoff im Detail dann zu wenig oder zu viel ist, bleibt natürlich Ermessenssache. Pompöse Schleppen oder knappe Dekolletes sind weiterhin keine Mangelware. Vielleicht hatten die Modemacher vom neuen Dresscode a la Cannes ja auch zu spät erfahren.
Auf der Leinwand spielen solche Fragen keine Rolle. Wobei es auch dort auf die feinen Unterschiede ankommt. Der 12-jährige Nanning (Jasper Ole Billerbeck) in Fatih Akins Kriegsende-Drama bleibt auf der gleichnamigen Insel immer einer vom Festland, der nicht ganz dazugehört und erst nach der Bombardierung von Hamburg hier Zuflucht gefunden hat. Zudem ist er Sohn eines hohen Nazi-Funktionärs.
Selbst in den eigenen vier Wänden muss er aufpassen, was er sagt. Seine Frage, ob denn der Vati bald wiederkomme, weil der Krieg doch nicht mehr lange dauere, wird von der linientreuen Mutter hart sanktioniert. Doch der hellwache Junge hat das Herz auf dem rechten Fleck und sucht zwischen den zerfallenden Gewissheiten des “tausendjährigen Reichs” und dem Alltag der ausgemergelten Menschen seinen eigenen Weg. Fast den ganzen Film über ist er auf der Suche nach Butter, Mehl, Zucker und Honig, weil seine Mutter gerade ein viertes Kind geboren hat und sich – ganz Hamburger Oberschicht – nichts sehnlicher wünscht, als in ein Weißbrot mit Honig zu beißen.
“Amrum” wurde in Cannes mit warmem Beifall bedacht, auch, weil Fatih Akin hier Stammgast ist und der Film von ihm nur huckepack inszeniert wurde. Eigentlich wollte ihn Hark Bohm drehen, auf dessen autobiografischen Erinnerungen das Werk beruht. Doch Bohm, Mitte achtzig, traute sich die Dreharbeiten nicht mehr zu und überredete seinen Freund Akin, die inzwischen auch als Buch veröffentlichten Erlebnisse filmisch umzusetzen.
“Amrum” ist gediegen inszeniert und als Jugendfilm mit großer Sensibilität ganz aus der Perspektive des jungen Protagonisten entwickelt. Die eigenwillige Wattlandschaft um die Insel und das Spiel der Gezeiten tragen ihren Teil zum Reiz der Geschichte bei. Am Ende steht Hark Bohm am Ufer und schaut sinnend in die abendliche Weite.
Mitten in die Gegenwart springt hingegen Dominik Moll, obwohl sein packender Polizeithriller im Nachgang zu den bürgerkriegsähnlichen Kämpfen in Paris im Frühjahr 2019 spielt, als es zwischen Gelbwesten und der Polizei zu brutalen Auseinandersetzungen kam. Im Mittelpunkt: eine von Lea Drucker bravourös gespielte Ermittlerin, die intern gegen gewalttätige Beamte vorgeht. Auf ihrem Schreibtisch landet der Fall eines jungen Mannes, der bei den Demonstrationen auf den Champs-Elysees von einem Gummigeschoss am Kopf getroffen und so schwer verletzt wurde, dass er zeitlebens gehandicapt bleiben wird.
Seine Mutter dringt auf die Bestrafung der Polizisten, doch es gibt anfangs keinerlei Unterlagen über den Vorfall. Die Inspektorin, selbst Mutter eines Heranwachsenden, beginnt dennoch mit ihren Recherchen, die sie primär vom Schreibtisch aus führt. Obwohl die Kamera die Büroräume kaum verlässt, entwickelt der raffinierte Film eine enorme Dynamik und zeichnet minutiös die Sisyphosarbeit nach, mit der mehr Licht in die Vorfälle gebracht werden soll.
Der Film nützt dabei exzessiv das Mittel des Off-Tons, mit dem die Mails und Schriftstücke verlesen werden, die zwischen den vielen beteiligten Behörden hin- und hergehen. Nach und nach kommen Videoaufzeichnungen von Überwachungskameras, Mitschnitte aus den Sozialen Medien, Berichte und Bulletins zu Vorschein, die dem Geschehen immer näherkommen, auch wenn alle, die potenziell als Verursacher in Frage kommen, die Ermittlungen blockieren oder schlicht alles abstreiten.
Für die Wucht des Films ist die gegenläufige Perspektive des Opfers und seiner Familie entscheidend, die aus der Provinz kommen und bei den Demonstrationen in Paris ihre generelle Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen wollen. Mit wenigen Szenen macht “Dossier 137” greifbar, wie der Glaube an den Staat oder eine juristische Gerechtigkeit zunehmend schwinden und die Kluft zum Establishment in Paris immer größer wird.
“Dossier 137” seziert mit erdrückender Klarheit die gegenläufigen Tendenzen in der französischen Gesellschaft, die sich immer stärker aneinander reiben. Für den überzeugenden Versuch, die Bruchlinien innerhalb der französischen Gesellschaft sichtbar zu machen (zu denen hier auch Fragen von Rasse und Geschlecht zählen), empfiehlt sich “Dossier 137” zumindest schon für den Preis der Ökumenischen Jury.
Vielleicht hatte auch Ari Aster ähnliches im Sinn, als er sich mit seinem Co-Autor Lars Knudsen ans Drehbuch von machte. In dem titelgebenden US-amerikanischen Kaff in New Mexico eskalieren im Mai 2020 die Konflikte rund um das Tragen von Covid-Masken.
Während der Bürgermeister (Pedro Pascal), der sich bald einer Wiederwahl stellen will, die staatlichen Anordnungen für verbindlich erklärt, stellt sich der raubeinige Sheriff (Joaquin Phoenix) quer. Mit Blick auf sein Asthma, aber eigentlich generell, weil er sich nichts vorschreiben lassen will.
Mit satirischer Lust treibt der Film die Auseinandersetzung schnell auf die Spitze, als der Sheriff plötzlich auch für den Job des Bürgermeisters kandidiert und auf Wahlkampf umschaltet. Mit allen Exzessen, die man seit Trump 1&2 nicht mehr als karikatureske Überzeichnungen interpretieren kann.
Hinzu kommen knapp ein Dutzend weitere Konfliktherde, Antifa-Anschläge, protestierende Studenten, Verschwörungstheorien, private Animositäten und eine von den Sozialen Medien so unterminierte Öffentlichkeit, dass sich Fake News kaum noch von harten Wahrheiten unterscheiden lassen.