SOEST – „Burn-out bei Müttern“, „Unvereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit“, „Pflegenotstand“, „Selbstständige Hebammen vor dem Aus“ … Das sind aktuelle Schlagzeilen in den Medien. In unterschiedlichen Kreisen der Gesellschaft werden sie als Krise unserer Gesellschaft gewertet. Es ist von der „Care-Krise“ die Rede und von der großen Herausforderung, das Zusammenleben der Menschen neu zu ordnen und „das gute Leben für alle“ in den Mittelpunkt politischen und sozialen Handelns zu stellen.
Grundsätzliche Neubewertung
Bei dem Thema „Care“, dem sich die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e. V. (Soest) aktuell in einem intensiven Diskussionsprozess widmet, geht es jedoch nicht allein um eine Neuverteilung von Hausarbeit, Pflegetätigkeit und Fürsorge zwischen Frauen und Männern. Es geht um eine grundsätzliche Neubewertung dieser Tätigkeiten als Folge eines veränderten Menschenbildes. Grundlegend ist das Wissen darum, dass Menschen als abhängige Wesen geschaffen sind und in Beziehungen leben. Menschen sorgen sich um andere und erfahren selbst Fürsorge und Versorgung. So übernehmen alle, für sich und andere, anteilnehmend und vorausschauend Verantwortung.
Erwerbs- und Sorgearbeit gilt es nach Überzeugung der Frauenhilfe nicht zu trennen. Zudem sollte die Arbeit auf beide Geschlechter gerechter verteilt werden. Die finanzielle Ausstattung von Menschen in sorgenden Tätigkeiten ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung.
In der Praxis jedoch sind es seit Generationen vor allem Frauen, die die Fürsorgearbeit leisten. Die gesellschaftliche Verantwortung wird individualisiert und lastet vorwiegend auf ihrem Rücken. Die Zahl der Frauen, die aufgrund familiärer Belastung an Erschöpfungssymptomen leiden, steigt seit Jahren. Zudem tragen Frauen durch unbezahlte Sorgearbeit finanzielle Nachteile bis hin zur Altersarmut. Durch die Verlagerung von Sorgetätigkeiten auf Migrantinnen und Ost-Europäerinnen wird das Problem in andere Länder verschoben, dort wiederum bleiben Kinder und Alte unversorgt zurück.
Was heute „Care“ genannt wird, ist durch die Geschichte hindurch bedeutender Inhalt diakonischer Verbände und christlicher Frauenarbeit gewesen. Daher ist das Thema Care im Feminismus ein altes Thema. Im Christentum und anderen Religionen gibt es je eigene Vorstellungen für eine Ethik der Fürsorge. Neu ist die Wahrnehmung, dass die Sorge- und Pflegearbeit sich nicht nur entlang von Geschlechter-, sondern auch von Armutsgrenzen verschiebt. In einer älter werdenden Gesellschaft erhält das Thema zusehends größere Relevanz.
Die westfälische Frauenhilfe widmet sich zwei Jahre lang schwerpunktmäßig der Care-Thematik mit einem umfangreichen Bildungspaket, dem Jahresthema. Jährlich werden damit etwa 500 ehrenamtlich tätige Frauen erreicht.
2015 lag der Schwerpunkt unter dem Titel „Lohnende Liebesmüh! – Care-Arbeit als gesellschaftliche Aufgabe“ unter anderem auf folgenden Aspekten: Fordert die Rede von der sorgenden Gesellschaft auch das neue Nachdenken über die Art, mit der Menschen mit anderen – aber auch mit sich selbst – umgehen? Gibt es biblische Orientierungslinien, die helfen können, sich einzusetzen ohne auszubrennen? Wer ist zuständig für die „Sorge-Arbeit“? Welche Beiträge von Frauen zählen zu diesem Handlungsfeld? Welche ethischen Kriterien müssen in der Diskussion über „Care“ beachtet werden? Wie wird Alter und die Notwendigkeit von Pflege in den Medien dargestellt?
2016 wird die Care-Thematik unter dem Titel „Wir kümmern uns. Care als gesellschaftliche Aufgabe“ unter anderem durch die Geschichte des „Helfens in der Frauenhilfe“ in ihrer Entwicklung über 110 Jahre in der westfälischen Frauenhilfe beleuchtet. Pflege, Begleitung und Beratung gehörten schon immer zur diakonischen Arbeit der Frauenhilfe, wenn sich die Ausgestaltung im Laufe der Jahrzehnte auch verändert hat.
Ein weiterer Fokus liegt in diesem Jahr auf dem Thema Organspende. Über den Tod hinaus sollen sich Menschen um andere kümmern, indem sie einer Organspende zustimmen. „Ich entscheide. Aus Liebe zum Leben“ lautet etwa der Slogan der Werbekampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Seit 2015 gibt es den alternativen Organspende-Ausweis der Evangelischen Frauen in Deutschland „Organspende. entscheide ich“. Im Jahresthema 2016 werden die Pro- und Contra-Argumente zum Thema Organspende behandelt und die beiden aktuell vorliegenden beiden Ausweise miteinander verglichen.
Handeln zum Wohle aller Menschen
Die Frage von „Care und Gerechtigkeit“ wird auch in der Bibel behandelt, etwa beim Propheten Jesaja (58,6-9a). Hier reicht die Bandbreite fürsorglichen menschlichen Handelns vom Brotteilen mit Hungrigen über die Aufnahme von Menschen ohne Zuhause bis zum Einsatz gegen ungerechte Strukturen. Es geht um das fürsorgliche Handeln für das Wohlergehen aller. Deutlich wird dabei auch: Im Kümmern um die Menschen wird Gottes heilende und helfende Nähe erfahrbar.
Mit ihrem Schwerpunktthema lädt die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen dazu ein, über die aktuelle Dimension dieser Bibelstelle nachzudenken. Mit der Jahreslosung 2016 – „Gott spricht: Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet“ (Jesaja 66,13) – rundet sich das Bild: Fürsorgliches Handeln in Gerechtigkeit der Menschen führt in Gottes Gegenwart. Gott wiederum wendet sich fürsorglich den Menschen zu, wie eine Mutter – Leben schenkend und bewahrend.
• Die Autorin, Manuela Schunk, ist Öffentlichkeitsreferentin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen.