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Gott steht im Wort

Andacht über den Predigttext zum 10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag): Johannes 2, 13-22

Predigttext
Das jüdische Pessach war nahe und Jesus stieg hinauf nach Jerusalem. Und er traf im Heiligtum die Händler an, die Rinder, Schafe und Tauben verkauften, sowie die Geldwechsler, wie sie da saßen. Nachdem er eine Peitsche aus Stricken gemacht hatte, trieb er sie alle aus dem Heiligtum hinaus, auch die Schafe und die Rinder, und den Münzwechslern schüttete er das Kleingeld aus und stürzte ihre Tische um. Und zu den Taubenverkäufern sprach er: „Schafft das fort von hier! Macht nicht das Haus meines Vaters zu einem Kaufhaus!“ Seine Schüler erinnerten sich daran, dass geschrieben steht: Der Eifer um dein Haus wird mich verzehren (Psalm 69,10). Da ergriffen die anwesenden Juden das Wort und sagten ihm: „Mit was für einem Zeichen kannst du dich uns ausweisen, dass du das tun darfst?“ Jesus antwortete und sagte ihnen: „Zerstört diesen Tempel! Und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ Da sprachen diese Juden: „46 Jahre lang ist an diesem Tempel gebaut worden. Und du – in drei Tagen willst du ihn aufrichten?“ Er jedoch redete von seinem Leib als Tempel. Als er nun von den Toten aufgerichtet worden war, erinnerten sich seine Schüler, dass er das gesagt hatte. Da glaubten sie der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte.
Übersetzung: Klaus Wengst

Israelsonntag. Endlich haben wir erkannt: Gottes Bund mit seinem Volk Israel ist nicht aufgekündigt. Und dann dieser Predigttext?! Zeigt nicht Jesu Aktion im Tempel, dass dieser keine Bedeutung mehr hat? Seit und durch Jesu Tod und Auferstehung gilt doch nicht mehr, was im Tempel geschieht? Diejenigen, die damals an ihn als Messias glaubten, meinten das nicht. Sie gingen selbstverständlich weiter zum Tempel, auch Paulus. Jesus bezeichnet den Tempel als „das Haus meines Vaters“. Seine Aktion wird mit Psalm 69,10 gedeutet: als Eifer um das Haus Gottes. Wie sollte er nicht um ihn eifern? Denn der Tempel ist der Ort von Gottes besonderer Gegenwart.
Als Johannes sein Evangelium schrieb, war der Tempel bereits von den Römern im Jahr 70 n. Chr. dem Erdboden gleichgemacht worden. Wo war nun die Gegenwart Gottes? Darauf gibt Johannes mit der Aussage eine Antwort, dass Jesus von seinem Leib als Tempel redete, als er vom „Aufrichten“ des Tempels sprach. Er also, Jesus, ist der Ort der Gegenwart Gottes. Doch nach seinem Tod ist Jesus nicht mehr leibhaftig da. Wie kann er dann die Gegenwart Gottes verbürgen?
Am Schluss des Textes heißt es von den Schülern, als sie sich nach Jesu „Aufrichtung“, seiner Auferweckung von den Toten, „erinnerten“: „Da glaubten sie der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte.“ Jesus ist da im Wort, das nun die Gegenwart Gottes zuspricht. Mit dem, was er gesagt, getan und erlitten hat, ist er da in den Worten der vier Evangelien, im von ihnen schon je unterschiedlich ausgelegten Wort, das je und je wieder ausgelegt werden will. Und neben und vor dem Wort Jesu steht „die Schrift“, die jüdische Bibel. Sie war die Bibel Jesu und die der Evangelisten. Das Wort Jesu steht nicht isoliert für sich; es gründet in dieser Schrift.
Das Hören auf die Schrift, die Orientierung des Lebens an ihr, besonders an ihrem ersten Teil, der Tora: Das war es, was dem nicht an Jesus als Messias glaubenden Judentum das Überleben nach der Katastrophe des Jahres 70 mit der Zerstörung des Tempels ermöglichte und es der Gegenwart Gottes vergewisserte. In jeder Synagoge macht die in ihr zur Vorlesung gebrauchte Torarolle ihren Aufbewahrungsort zum arón ha-kódesch, zur „heiligen Lade“, in Entsprechung zur Bundeslade, die im Allerheiligsten des ersten Tempels in Jerusalem stand. So sprach Heinrich Heine von der Tora als dem „portativen Vaterland“ des jüdischen Volkes. Die Geschichte Gottes mit ihm hat weder mit Jesu Tod und Auferweckung noch mit der Tempelzerstörung ihr Ende gefunden. Sie ist weitergegangen und sie geht weiter. Im Exil nach der Zerstörung des ersten Tempels setzt gegen die hier erfahrene machtvolle Gewalt ein Prophet auf das schwache Wort und sagt voll guten Trotzes: „Aber das Wort unseres Gottes bleibt auf immer“ (Jesaja 40,8). Das ist im Neuen Testament aufgenommen (1. Petrus 1,25) und steht auch unter der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Gott ist im Wort. Gott steht im Wort. Gott hält Wort. Darauf vertrauen Juden und Christen.
Israelsonntag. An ihm träume ich besonders sehnlich, dass in nicht allzu ferner Zeit auf Gemeindeebene geschehe, was ich im wissenschaftlichen Bereich und auf Kirchentagen mit einzelnen Jüdinnen und Juden erleben durfte. Dass Christen und Juden in gegenseitiger Achtung und unter Respektierung bleibender Unterschiede im gemeinsamen Lesen von Bibeltexten voneinander und miteinander lernen – und sich dabei von Gottes Wort getrost machen lassen.