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Gospel: Wo steht die Bewegung heute?

Vor 25 Jahren begann das Comeback: Gospel, eigentlich eine nicht mehr ganz taufrische Musikform, eroberte Kirchen und Bühnen. Die Musik wandelte sich – und muss es auch weiterhin tun.

Gospel ist mehr als nur fromme Songs: Begeisterte Sängerinnen bei einer Probe zum Gospel-Oratorium „7 Worte vom Kreuz“
Gospel ist mehr als nur fromme Songs: Begeisterte Sängerinnen bei einer Probe zum Gospel-Oratorium „7 Worte vom Kreuz“Stiftung Creative Kirche

Olympische Spiele, Paris – und die Welt wundert sich. Nicht nur, dass die 25-jährige Yemisi Ogunleye im Kugelstoßen Gold gewinnt. Eine Sensation! Die deutsche Top-Athletin sorgt aber auch bei der Pressekonferenz danach für Aufsehen. Vor den Augen und Ohren der Weltöffentlichkeit singt die frischgebackene Olympiasiegerin erst mal – einen Gospelsong.

Als die junge Frau mit strahlendem Gesicht und fester Stimme das Gotteslob anstimmt, spürt man instinktiv: Hier dankt jemand von ganzem Herzen. Und als Ausdruck eines tiefen Glaubens.

Gospel hat in den vergangenen Jahrzehnten eine große Erfolgsgeschichte geschrieben. Auf rund 4000 Chöre mit über 100.000 Sängerinnen und Sängern schätzen Fachleute derzeit die Szene in Deutschland. Die Musik gehört mittlerweile zum Standard-Repertoire von Gesangsgruppen, die sich mit Popularmusik beschäftigen. Und in Essen findet vom 13. bis 15. September bereits zum elften Mal der Gospelkirchentag statt. Über 5000 Sängerinnen und Sänger werden dabei sein.

Gospel ist nicht neu – und heute überraschend vielfältig

Dabei ist die Musik alles anderes als neu. Als eigenständiges Genre geht sie auf die 1920er Jahre zurück; ihre Wurzeln sind noch älter. Nach einer Blüte in den 60er- und 70ern legte sich allerdings zumindest in Deutschland eine Art Dornröschenschlaf über das musikalische Gotteslob. Gospel war nur noch eine Randerscheinung.

Das änderte sich schlagartig 1992: Der Film „Sister Act“ wurde zum weltweit zum mega Kino-Erfolg. Whoopie Goldberg als Nachtclubsängerin, die in der Verkleidung einer Nonne ein ganzes Kloster mit hinreißenden Rhythmen und Mitmach-Gesängen aufmischt, läutete auch in Deutschland eine Zeitenwende ein. Mit einem Mal stand Gospel wie ein Gütesiegel für die Botschaft: frischer Wind hinter alten Mauern.

Landauf, landab entstanden neue Chöre, die sich „Gospel“ auf die Fahne und in den Namen setzten. Auch traditionelle Kirchenchöre wollten nicht zurückstehen und übten Songs ein wie „Amazing grace“, „I will follow him“ oder „Ain’t no mountain high enough“.

Als die Creative Kirche, damals eine Initiative in der Jugendarbeit im westfälischen Kirchenkreis Hattingen-Witten, 2002 zum ersten „Gospelkirchentag“ in die Grugahalle Essen einlud, zeigte sich, wie stark die neue Gospelbewegung mittlerweile war: 70 Chöre nahmen teil. Grugahalle und Grugapark waren voll mit 1.800 Sängerinnen und Sängern und etwa 10.000 Besucherinnen und Besuchern. Seitdem ist Gospel eine feste Größe in der Chorszene.

Pop, Folk, Rock: Beim „Gospel“ geht alles

Aber, was ist das eigentlich genau: Gospel? Schaut man in das Repertoire der rund 150 Chöre aus 26 Nationen, die in Essen beim 11. Gospelkirchentag teilnehmen werden, zeigt sich bei den Songs eine enorme Bandbreite: Pop. Folk. Rock. Und selbst Anleihen beim Schlager sind zu finden. Martin Bartelworth, Vorstand der Stiftung „Creative Kirche“, einer der Veranstalter des Gospelkirchentags, erklärt das so: „Die Chöre singen längst nicht mehr nur traditionelle Gospelmusik. Da mischen sich alle möglichen Musikstile der Popularmusik.“

Um besser zu verstehen, was traditioneller Gospel ist, schaut man sich am besten ein typisches Lied an. Etwa „Oh happy day“. Bekannt wurde der Song durch die Edwin Hawkins Singers, die es 1969 als Schallplatte herausbrachten. Das Lied wurde zum weltweiten Millionenerfolg. Auch in Deutschland, wo es zeitweise Platz eins der Charts erreichte. An diesem Stück lassen sich gut die typischen Elemente der Gospelmusik im ursprünglichen Sinn erkennen.

  •  Arrangement für einen Chor.
  •  Call-and-Response („Ruf und Antwort“): Vorsänger oder Vorsängerin singt eine Zeile vor. Der Chor antwortet.
  •  Starker, mitreißender Rhythmus, wird durch Klatschen und Körperbewegungen aufgenommen.
  •  Improvisation und Variation durch Vorsänger oder Vorsängerin.
  •  Klavierbegleitung, oft mit rhythmischen Gegenakzenten („Synkopen“).
  •  Emotionale Intensität.

Das sind die musikalischen Merkmale. Entscheidend aber ist vor allem: religiöser Inhalt; christliche Themen, Bezug auf biblische Erzählungen.

Gospel heißt wörtlich übersetzt: Evangelium, gute Nachricht, frohe Botschaft. Im Gegensatz zum Spiritual, einem Vorläufer der Gospelmusik, der von Leiden und Schmerz erzählt (meist in Anlehnung an alttestamentliche Sprach-Bilder), stellt die Gospelmusik ganz die Freude über die Errettung und das Gotteslob in den Vordergrund: „Praise the Lord!“. „Gospel ist Jesus“, sagt Tore W. Aas, als Komponist und Leiter des Oslo Gospel Choir viele Jahre so etwas wie der Übervater der neueren Bewegung. „Nimm Jesus daraus weg, und es ist kein Gospel mehr“, meint der Norweger.

Gospel erreicht auch Kirchenferne. Ist das dann nicht Etikettenschwindel?

Was fast zwangsläufig zu der Frage führt, ob der Erfolg des Gospels nicht auf einem Etikettenschwindel fußt: Die Gospel-Bewegung erhielt über Jahre starken Zulauf vor allem durch kirchlich Halb-Distanzierte und Kirchenferne. Ist das fromme Gotteslob aus deren Munde nicht leere Hülle?

„Das überlassen wir dem Heiligen Geist“, sagt Martin Bartelworth. „Wir machen ein Fenster zum Glauben auf, schaffen mit der Musik einen Zugangspunkt.“ Was dann geschehe, sei eine Sache zwischen Gott und dem Menschen. „Niemand wird beim Singen zu irgendetwas gezwungen“, sagt Bartelworth. Aber in 22 Jahren Gospelkirchentags-Arbeit habe er immer wieder erlebt, dass es nicht bei der Musik bleibe, sondern ein tieferes Interesse an Gott und Glaube entstehe.

25 Jahre lang hat die Gospel-Welle Menschen mit dem Glauben in Berührung gebracht, die sonst wohl kaum eine Anknüpfung an Kirche und Co. gefunden hätten. In dieser Zeit hat sich die Bewegung verändert. Aus der Aufbruchstimmung, dem fast aufrührerischem „wir lassen die Kirche wackeln“ ist eine etablierte Szene geworden. War das Durchschnitts-Alter der Teilnehmenden beim ersten Gospelkirchentag irgendwo Mitte 30, ist es jetzt bei 52 Jahren.

„Das ist die große Aufgabe für die Zukunft“, erläutert Martin Bartelworth. „Wir müssen die Jüngeren wieder dazu bekommen.“ Dafür gebe es gleich mehrere Ansätze, wie das Jugendfestival beim Gospelkirchentag. Ebenso müssten junge Chorleiterinnen und -leiter gewonnen und ausgebildet werden. Etwa durch ein Mentorenprogramm, wie es die Evangelische Pop-Akademie Witten anbiete, getragen von der Stiftung Creative Kirche, der Evangelischen Landeskirche von Westfalen und dem Evangelischen Kirchenkreis Hattingen-Witten.

Projektarbeit wird immer wichtiger – das muss auch die Ausbildung der Chorleiter berücksichtigen

Zudem werde es immer wichtiger, auf Projektarbeit zu setzen; jüngere Menschen binden sich nicht gern auf längere Zeit. Dazu kämen Singabende, offenes Stadionsingen – „wir brauchen einen Zugang unterhalb der klassischen Vereins-Chorarbeit“, so Bartelworth. Dies müsse Bestandteil der künftigen Kirchenmusik-Ausbildung werden.

Die große Beteiligung am bevorstehenden Gospelkirchentag ist ein Beleg, dass das gelingen kann. „Die Menschen werden auch künftig gerne gemeinsam singen“, ist Martin Bartelworth überzeugt, „das können wir aufgreifen“. Die Gospel-Szene habe die Einbrüche der Coronazeit überwunden. „Mir ist nicht bange vor der Zukunft“, sagt Martin Bartelworth.

Das ist ein ähnlicher Sound wie bei Goldmedaillen-Gewinnerin Yemisi Ogunleye. Als sie erklärte, warum sie bei der Pressekonferenz einen Gospel-Song gesungen habe, sagte sie: Sie habe Gott danken wollen, der sie durch alle Krisen getragen habe und sie niemals die Zuversicht verlieren ließ.

Klingt ja fast schon selbst wie der Text zu einem Gospelsong.