Auf dem Titelblatt der US-Zeitschrift „People“ vom 15. April 1985 prangt das sympathische Foto von Ruth Westheimer (1928-2024), darüber die Überschrift „Good Sex! with Dr. Ruth“. Die spätere Sexualtherapeutin wurde als Zehnjährige von ihren jüdischen Eltern 1939 aus Frankfurt am Main mit einem Kindertransport in die Schweiz geschickt und überlebte den Holocaust, anders als die Eltern. 1956 siedelte sie in die USA um und wurde zur berühmten Sex-Aufklärerin. Die Zeitschrift in der überarbeiteten Dauerausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933-1945 belegt den Erfolg der Exilantin. Am 5. Dezember feiert das einzigartige Archiv in Frankfurt am Main das 75-jährige Bestehen und die Wiedereröffnung der erweiterten Ausstellung „Exil. Erfahrung und Zeugnis“.
Die in der Deutschen Nationalbibliothek gesammelten Werke zeigten viele Facetten des Exils auf, erläutert die Leiterin Sylvia Asmus. Briefe von Thomas Mann und Hannah Arendt, Manuskripte von Otto Klemperer, Postkarten von Else Lasker-Schüler – das Archiv vereint neben allen von deutschen Exilanten während der NS-Herrschaft im Ausland veröffentlichten Werken auch Archive und Nachlässe. Längst nicht alle konnten an ihre berufliche Laufbahn in Deutschland anknüpfen. Bambi, Kamel und Giraffe, in der Ausstellung gezeigte Stofftiere der Designerin Charlotte Bondy, brachten ihrer Schöpferin im Londoner Exil um 1940 beispielsweise keinen Erfolg.
Das Deutsche Exilarchiv 1933-1945 ist nach den Worten von Asmus die einzige Stelle in Deutschland, die ausschließlich Literatur und Materialien von Emigranten aus NS-Deutschland sammelt, und das seit 75 Jahren. Emigranten im „Schutzverband deutscher Schriftsteller in der Schweiz“ gaben 1948 gemeinsam mit der damals neu gegründeten Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main den Anstoß zu einer „Bibliothek der Emigrantenliteratur“. Im November 1949 rief der Schutzverband zu einer Sammlung von Werken auf. Am 2. Dezember wurde der Aufruf in der New Yorker Zeitschrift „Aufbau“ veröffentlicht.
Die Bibliothek solle nicht nur „ein Hilfsmittel literarischer Forschung“ sein, sondern auch „eine Kundgebung für die in Deutschland 1933-1945 verbannte, verbrannte und unterdrückte Literatur und deren geistige Nachfolge, ein Kampfmittel gegen das sich von neuem erfrechende Nazitum“, proklamierte der Verbandsvorstand. Das Interesse an Exilanten war in der Nachkriegszeit jedoch gering. 20 Jahre später änderte sich das: 1969 schrieb der Deutsche Bundestag die Sammlung des Archivs von Exilliteratur per Gesetz fest.
Nach der Wiedervereinigung 1990 erfolgte nicht die räumliche, aber die organisatorische Zusammenführung der Bestände an Exilliteratur in Frankfurt und an der Deutschen Bücherei in Leipzig. Aktuell verfügt das Archiv über rund 33.000 Monografien, 36.000 Zeitschriftenbände und 351 Nachlässe. Fast alle Werke sind nach Angaben von Asmus inzwischen digitalisiert, die Zeitschriften seien auf dem Weg dahin. Forscher können per Videoschaltung mit einer Dokumentenkamera die Originale auch aus der Ferne in Augenschein nehmen.
Inzwischen hält das Archiv auch Interviews mit Zeitzeugen fest. Kurt Salomon Maier (94) und Inge Auerbacher (89), beide aus dem badischen Kippenheim stammend, wurden in den USA mit 900 Fragen interviewt. Besucher der interaktiven Ausstellung „Frag nach“ im Deutschen Exilarchiv oder per Internet (fragnach.org) können der Videopräsentation Fragen stellen, und die Interviewten antworten mittels einer künstlichen Intelligenz auf die jeweilige Frage.
Das Archiv spreche auch in die Gegenwart, hebt die Leiterin hervor. In ihm könne abgelesen werden: „Was bereitet den Boden für eine Entrechtung und wie beginnt Ausschluss?“. Das Archiv lehre, wie eine Gesellschaft aussehen müsse, in die sich Immigranten gut einbringen können: Dies gelinge mit Offenheit und Wertschätzung, mit Sprachkenntnis und Zugang zum Arbeitsmarkt. „Man lernt den Wert der Demokratie schätzen“, betont Asmus.
Daher verharrt das Archiv auch mit Veranstaltungen nicht in der Vergangenheit. So sprechen etwa Exilanten in Deutschland, wie der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu oder der türkische Journalist Can Dündar, über ihre Exilerfahrungen in der Gegenwart. Am 5. Dezember feiert das Archiv in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt sein Jubiläum. Als Gastredner ist unter anderen der Schriftsteller und Psychologe Frido Mann, ein Enkel Thomas Manns, eingeladen. Asmus ist überzeugt: Das Deutsche Exilarchiv diene im besten Fall dazu, die eigene Verantwortung für die Gesellschaft zu erkennen.