Heute schon ein lustiges Bild im Kollegen-Chat gepostet? Online einen Artikel gelesen oder ein Bild geliket? Nichts davon ist folgenlos. Eine Expertin erklärt, warum es einen bewussten Umgang mit dem Social Web braucht.
Früher war sicher nicht alles besser – aber die Sozialen Medien harmloser. “Beruhigend übersichtlich” sei das Internet vor 20, 25 Jahren gewesen, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout; es habe Raum für “Experimente, für spielerische Identitätsentwürfe, für das Austesten sozialer Grenzen” geboten. In ihrem aktuellen Buch “Hyperreaktiv” zitiert Kohout die Zuschrift einer jüngeren Frau, die – geboren 2005 – “das alte Facebook-Feeling” lieber hätte als Instagram, Tiktok und Co.
Heute, so lautet Kohouts Kernthese, seien Reactions “die Hauptwährung im Netz” – und vielen Menschen sei nicht bewusst, wie massiv sich dies auswirke. Auch offline: “Wir haben uns neue Gewohnheiten angeeignet – wie wir reagieren, bewerten oder etwas weitergeben -, und daraus ist eine Reaktionskultur entstanden, die unser Verhalten online wie offline prägt”, sagt die Autorin im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Eine Alltagssituation, zu der einem sofort das passende Meme einfällt. Die Bemerkung, am Wochenende habe man zu viel “Doomscrolling” betrieben – und das Gegenüber, das darauf mit aufgerissenem Mund reagiert und beide Hände vors Gesicht schlägt wie der Emoji, der an Munchs “Schrei” erinnert: All das sind Beispiele dafür, wie Online- und Offline-Welt verschmelzen.
Doch Kohout geht es nicht nur um diese spielerischen Elemente. “Jedes Like, jeder Kommentar, jede Share-Aktion im Netz wird gemessen”, erklärt sie. “Das beginnt bei der Verweildauer. Schon allein das längere Anschauen entscheidet mit darüber, welche Inhalte besonders viel Aufmerksamkeit bekommen und welche in der Unsichtbarkeit verschwinden.” Der Einfluss, den man mit all diesen Handlungen, oft wie nebenbei aufgeführt, ausübt, ist manchen sehr bewusst – etwa im Marketing – und vielen anderen kaum. Die Expertin, die sich selbst augenzwinkernd als “Archäologin” von Reels, Stories und Stitches beschreibt, sieht eine “riesige Kluft in der Gesellschaft”.
Museen arbeiten daran, Ausstellungen “instagrammable” zu machen. Medienschaffende balancieren zwischen Seriosität und der Jagd nach Clicks; Werbekampagnen zitieren Memes in der Hoffnung auf einen neuen Digital-Coup. Die Entwicklung betreffe also nicht allein jüngere Generationen, die “digitale natives”, die sich meist intuitiv im Netz bewegen. Jüngere Menschen seien oft “geübter darin, sich in der Reaktionskultur zu bewegen, weil sie damit aufgewachsen sind”, erklärt Kohout. “Aber auch Ältere kommen nicht drumherum, wenn sie wahrgenommen werden wollen. Selbst wenn man kritisch bleibt, ist man diesen Mechanismen ausgesetzt.”
Diese Mechanismen wirken auch auf die Psyche. Kohout blick auf den 11. September 2001 zurück, als beim Anschlag auf das World Trade Center in New York fast 3.000 Menschen starben: Sie war damals zwölf Jahre alt, und “die Terrorgefahr war allgegenwärtig”, wie sie schreibt. Dennoch habe sie ihre Jugend unbeschwert in Erinnerung, nicht so geprägt von Perspektivlosigkeit, wie es Studien im Hinblick auf heutige Jugendliche zeigen – angesichts von Corona, Klimakrise und einem neuen Krieg in Europa.
“Der Unterschied”, betont die Autorin, “liegt in der medialen Verarbeitung”. 2001 habe es kaum ein anderes Thema in Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen gegeben, auch in der Schule habe man darüber gesprochen. Das Thema sei also durchaus präsent gewesen, “aber hierzulande doch eher als Hintergrundrauschen, das Alltag und Privatleben nur wenig berührte.” Kohout: “Es war die Zeit vor den Sozialen Medien.”
Ein eindrückliches Beispiel – nicht nur, weil man sich Handy-Livebilder aus den brennenden Türmen nicht einmal vorstellen möchte. Am Ende ihres Buchs zitiert Kohout aus der Erfolgsserie “Adolescence”, als der halbwüchsige Mordverdächtige seinem Vater erklärt, dieser verstehe nicht, “was da abgeht: Insta, wo alles eine Bedeutung hat”. Jedes Details und jedes Wort könne im Social Web eine ungeplante Dynamik entfesseln – wohlkalkuliert oder unverhofft, mit erbaulichen Folgen oder mit ruinösen.
Das Bewusstsein für diese Prozesse zu schärfen, ist das erklärte Ziel der Autorin, und in ihrem Buch gelingt ihr das auf kenntnisreiche und zugleich unterhaltsame Weise. Künftig werde sich das, was sie beschrieben habe, noch massiv beschleunigen, vermutet sie – durch Künstliche Intelligenz. “KI macht sichtbar, dass im Netz vor allem zählt, was Resonanz erzeugt. Und genau darin sehe ich eine große gesellschaftliche Herausforderung – weil unsere Debattenkultur dadurch noch reaktiver, aber nicht unbedingt dialogischer wird.”