Artikel teilen

Gesundheitswissenschaftler: Im Gaza-Streifen zu wenig Wasser

Israels Oberster Gerichtshof hat sich am 4. April unter anderem mit der Wasserversorgung der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen befasst. Als Folge scheine die israelische Regierung nun willens, die Wasserversorgung dort wieder zu verbessern, sage der Gesundheitswissenschaftler der Universität Bielefeld, Oliver Razum, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Razum leitet die Taskforce zu Krieg und Public Health in dem Netzwerk ASPHER, einem Zusammenschluss von über 120 gesundheitswissenschaftlichen Fakultäten in Europa. In dieser Funktion hat er in Israel und in den palästinensischen Gebieten Fakultäten besucht und mit Wissenschaftlern gesprochen.

epd: Wie haben Sie die Situation in den palästinensischen Gebieten mit Blick auf das „Öffentliche Gesundheitswesen“ (Public Health) erlebt?

Razum: Wir haben uns, was den Gaza-Streifen angeht, insbesondere mit der Situation der Wasserversorgung und der Hygiene befasst. Dass es ausreichend sauberes Wasser sowohl zum Trinken wie auch zum Waschen gibt, ist eine elementare Lebensgrundlage. Im Gaza-Streifen gibt es nicht genug Wasser zum Trinken und Kochen. Zum Waschen und zum Toilettenspülen ist es zum Teil überhaupt nicht mehr verfügbar.

epd: Woran liegt das?

Razum: Vor dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat der Gaza-Streifen einen größeren Teil des Wassers über drei Wasserleitungen aus Entsalzungsanlagen in Israel erhalten. Seit dem 7. Oktober sind diese Leitungen nur noch teilweise in Betrieb. Der Gaza-Streifen hat zwar eigene Entsalzungsanlagen, aber auch die sind zum Teil beschädigt oder wegen der abgeschalteten Stromversorgung aus Israel nicht mehr in Betrieb.

epd: Welche Folgen hat das vor Ort?

Razum: Die Menge an Wasser, die pro Person zur Verfügung steht, ist in vielen Gebieten des Gaza-Streifens viel zu gering. Das absolute Minimum, das man bei 15 Liter pro Tag pro Person ansetzt, wird zum Teil dramatisch unterschritten.

Auch die Kläranlagen arbeiten derzeit nicht mehr – entweder, weil sie durch den Krieg beschädigt sind oder weil die Energieversorgung nicht mehr funktioniert. Wassermangel und defekte Kläranlagen begünstigen die Ausbreitung von Infektionskrankheiten.

epd: Was hat das langfristig für Auswirkungen in der Region?

Razum: Dadurch wird die Wasserversorgung auch in Israel und in Ägypten gefährdet, weil das Mittelmeer auf Dauer so stark verschmutzt, dass die Entsalzungsanlagen in Israel nicht mehr richtig arbeiten können.

epd: Wie könnte die Situation verbessert werden?

Razum: Das Thema der Wasserversorgung könnte ein Ansatzpunkt für eine Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinensern sein. Denn die Wasserversorgung ist auch unabhängig vom Krieg ein Problem für die ganze Region und kann nur über Ländergrenzen hinweg gelöst werden. Die Region bezieht einen Großteil des Wassers aus Entsalzungsanlagen. Auch für die im Gaza-Streifen festgehaltenen Geiseln wäre es eine Erleichterung, wenn es wieder mehr Wasser gibt, was Verbesserungen politisch möglich macht.

epd: Sehen Sie Ansätze für eine solche Zusammenarbeit?

Razum: Was ich in all dem Schrecken positiv sehe, ist, dass es sowohl in Israel als auch in den palästinensischen Gebieten Menschen gibt, die nicht der jeweiligen Regierungspolitik anhängen. In Israel gibt es jeden Samstag Demonstrationen für die Freilassung der Geiseln. Vor allem aber gibt es viele arabischstämmige oder linke Israelis, die die Politik der Regierung und die Besetzung der Westbank sehr kritisch sehen. Das sind Leute, die weiterhin in Kontakt mit palästinensischen Kolleginnen und Kollegen stehen und auf deren Initiative die Anhörung des Obersten Gerichtshofs zurückgeht.

epd: Wie kann es jetzt weitergehen?

Razum: Als Folge der Anhörung scheint die israelische Regierung endlich willens, die Wasserversorgung in Gaza wieder zu verbessern. Unabhängig davon gibt es an den Universitäten viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auch nach dem 7. Oktober versuchen, Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auszuloten und umzusetzen.

epd: Welche Form an Unterstützung wäre jetzt für eine bessere Wasserversorgung nötig?

Razum: Einiges, was getan werden müsste, lässt sich relativ einfach umsetzen. Alle Wasserleitungen aus Israel müssten wieder in Betrieb genommen werden. Nötig sind außerdem weitere Entsalzungsanlagen. Die Energieversorgung müsste wieder aufgenommen werden. Das ist auch für die Kleinbrunnen nötig, weil deren Pumpen Energie brauchen. Auch die Entsalzungsanlagen im Gaza-Streifen sind, sobald sie repariert werden können, auf die Energieversorgung aus Israel angewiesen. Nötig wären hier die technischen Voraussetzungen sowie politischer Druck.

epd: Wo müsste neben der Wasserversorgung weitere Hilfe ansetzen?

Razum: Eine offensichtliche Notlage im Gaza-Streifen gibt es bei den Unterkünften, weil viele Wohnungen zerstört sind. Weitere existenzielle Probleme sind die Versorgung mit Nahrungsmitteln und die medizinische Versorgung.

epd: Wie sieht die Lage auf israelischer Seite aus?

Razum: Auch dort ist die öffentliche Gesundheit nicht gut: Viele Menschen, die aus ihren Wohnorten evakuiert wurden, wissen nicht, ob oder wann sie wieder in ihre Heimatorte zurückkehren können. Viele leiden unter starken psychischen Traumatisierungen.

epd: Was bedeutet das für Kinder?

Razum: Für sie ist die Situation besonders prekär – sowohl auf palästinensischer als auch auf israelischer Seite. Angesichts der berechtigten Kritik an der israelischen Regierung muss man anerkennen, dass es Menschen in Israel gibt, die trotz aller Schrecken, die sie persönlich oder in der Familie erlebt haben, sagen: „Das muss sofort aufhören, wie das im Augenblick im Gaza-Streifen läuft“.