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Geschichten von Flucht und Fremdsein

Viele biblische Texte sind geprägt von Erfahrungen, die Flüchtlinge bis heute machen müssen

Fremde – das sind die, die anders sind: anders sprechen, anders aussehen, anders kochen, anders glauben. Fremde sind aber auch die, die Neues mitbringen und zu Freunden werden können, wenn man sie näher kennenlernt.

Solche Geschichten erzählt auch die Bibel – und zwar zuallererst aus der Perspektive der Fremden selbst: Abraham kam als Einwanderer nach Kanaan, in der Hoffnung auf Gottes Verheißung vom Gelobten Land – oder, um es mit heutigen Worten zu sagen: In der Hoffnung, dass es seine Nachkommen einmal besser haben würden.
Jakob schickte seine Söhne während einer Hungersnot als Armutsmi­granten nach Ägypten und nutzte anschließend mitsamt seinen Schwiegertöchtern und Enkeln die Möglichkeit des Familiennachzugs. Schließlich verließ ein ganzes Volk – das Volk Israel – in einer großen Fluchtbewegung das Land, in dem es rechtlos und schutzlos geworden war, und suchte sich eine neue Heimat in Kanaan. Später verbrachten viele Israeliten Jahrzehnte im babylonischen Exil.
Selbst Gott kommt im Alten Testament als „Fremder“, so der Theologe Frank Crüsemann: In 1. Mose 12 wird erzählt, wie Abraham und Sara drei fremde Männer empfangen und ihnen Gastfreundschaft erweisen. Von ihnen erhalten sie dann die göttliche Verheißung eines großen Volkes mit einem eigenen Land.
Israel kennt also die Schwierigkeiten und Konflikte, die mit dem Leben und Heimischwerden in einer fremden Umgebung einhergehen. Wahrscheinlich liegt es an dieser Vorgeschichte, dass der Fremde im Alten Testament eine für die damalige Zeit ungewöhnlich große Rolle spielt.
Das hebräische Wort „ger“ bezeichnet dabei einen freien, dauerhaft in Israel lebenden Ausländer. Diese waren den Israeliten rechtlich weitgehend gleichgestellt: „Der Fremde soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst“, heißt es etwa im 3. Mose 19,34. Die Begründung für diese positive Haltung liefert der zweite Teil des Verses mit der Menschenfreundlichkeit Gottes und der Geschichte Israels: „Denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.“
Allerdings galten die Einwanderer als ähnlich sozial schwach und schutzbedürftig wie Witwen und Waisen. Wie diese hatten sie zum Beispiel das Recht zur Nachlese, also zum Sammeln dessen, was auf den abgeernteten Feldern übrig geblieben war – das Buch Rut erzählt davon. Dass die Israeliten in der Praxis keineswegs immer so aufgeschlossen waren, wie ihre Gesetze vermuten lassen, zeigen die Bücher der Propheten: Oft wird hier die Unterdrückung der Fremden angeprangert und Gerechtigkeit angemahnt. Die späteren Schriften des Alten Testaments zeigen außerdem eine deutliche Tendenz zur Abgrenzung gegenüber allem Nicht-Israelischen.
Jesus – selbst als Säugling auf der Flucht – macht mit Worten und Taten deutlich, dass er nicht nur zu den Juden, sondern zu allen Menschen gesandt ist, etwa in der Geschichte vom römischen Hauptmann in Kapernaum, dessen Glauben er lobt (Matthäus 8, 5-13). Und der Hebräerbrief überträgt das Bild des Fremdseins auf das Leben der Christen insgesamt: unterwegs in einer Welt, die letztlich nicht Heimat ist.