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Gehörtwerden – das Markenzeichen Baden-Württembergs

Die Idee ist uralt und findet sich schon in der griechischen Demokratie vor zweieinhalbtausend Jahren: Per Los zusammengesetzte Gremien entscheiden in Gerichten und in der Politik. So weit wollte Gisela Erler, frühere Staatsrätin bei Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), nie gehen, als sie Beteiligung in sogenannten Bürgerforen im Südwesten etablierte. In ihrem Buch „Demokratie in stürmischen Zeiten“ erzählt sie die Geschichte der systematischen Einführung von Bürgerforen – und warum sie dieses Instrument in einer gespaltenen Gesellschaft für zunehmend wichtig hält.

In den vergangenen Jahren haben einige dieser Foren im Südwesten, aber auch im Bund Aufsehen erregt. Es fing mit dem „Filderdialog“ an, der sich im Zuge des Bahnhofsneubaus „Stuttgart 21“ mit der Anbindung des Flughafens befasste. Auch zum Thema „Krisenfeste Gesellschaft“ und zum neunjährigen Gymnasium wurde im Land eine buntgemischte Bürgergruppe mit Experten zusammengebracht. Zu deutschlandweiten Debatten führte 2023 ein Bürgerrat beim Bundestag zum Thema „Ernährung im Wandel“.

Das Prinzip ist überall ähnlich: Mithilfe von Daten der Einwohnermeldeämter wird versucht, ein möglichst breites Spektrum von Bürgerinnen und Bürgern für so ein Forum zu gewinnen. Aus einem divers aufgestellten Datensatz wird die Besetzung schließlich per Los entschieden. Das soll gewährleisten, dass nicht überwiegend Akademiker und politisch Engagierte ins Gespräch einsteigen, sondern auch Menschen mit geringerer Bildung. Auf einen angemessenen Anteil an Frauen und Migranten wird geachtet.

Gisela Erler – das machen ihre Erinnerungen deutlich – war umzingelt von Skeptikern bis weit in die Staatsregierung hinein. Sie ist erkennbar stolz, was innerhalb weniger Jahre mit dem Instrument der Bürgerbeteiligung gelungen ist. Inzwischen betreibt das Land sogar eine Servicestelle, um Kommunen zu beraten, die bei Großprojekten die betroffenen Menschen früh ins Boot holen wollen.

Erler hält diese Art von Beteiligung inzwischen für systemkritisch. Während ein Großwindpark in Mehring im bayerischen Landkreis Altötting am Widerstand der Bewohner scheiterte, die in keiner Weise beteiligt worden waren, führte das frühe Gespräch mit Bürgern in Bischweier bei Rastatt dazu, dass ein Bürgerentscheid zugunsten eines neuen Werks von Mercedes Benz ausfiel. „Ablehnungen können für Baden-Württemberg in seinem gegenwärtigen Strukturwandel gefährlich sein“, warnt sie.

Argumente gegen die Beteiligungsforen schmettert die Grünen-Politikerin, die erst mit 65 Jahren in das Amt als Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung einstieg, auf vielen Seiten ab. Zwar räumt sie ein, dass die Bürgerforen nicht vollständig repräsentativ seien. Dennoch gelinge es, eine große Bandbreite an Menschen in ihnen zu vereinen. Den Vorwurf, die Ergebnisse der Foren stünden schon vorher fest und würden von den „Auftraggebern“ – beispielsweise der Landesregierung – gesetzt, weist sie entschieden zurück. Tatsächlich sei man auch bei der Expertenauswahl sehr auf Ausgewogenheit bedacht.

Erlers Buch ist eine umfangreiche Darstellung, wie Bürgerbeteiligung im Südwesten und nach und nach auch in anderen Teilen Deutschlands seit 2011 gewachsen ist. Aber ihr Buch bietet mehr: etwa Einblicke in ihre Familiengeschichte mit dem prominenten Vater und SPD-Politiker Fritz Erler, teilweise scharfe Kritik am fundamentalistischen Flügel der Grünen und eine Vision, wie Europa durch ein stärkeres Einbinden seiner Bürgerinnen und Bürger an Kraft gewinnt.

Und schließlich ordnet sie die Bürgerforen ein: Sie will keine „Räte“ nach sozialistischem (und griechischem) Vorbild, die die Politik bestimmen, sondern eine wichtige Ergänzung der demokratischen Instrumente für Menschen, denen es nicht reicht, alle paar Jahre wählen zu gehen. Dazu zitiert sie Winfried Kretschmann, der 2011 den Stuttgarter Bürgern sagte: „Ihr sollt in Zukunft genauso viel Einfluss bekommen wie die Lobbys der Wirtschaft.“ (1000/10.05.2024)