In diesem Jahr begeht Deutschland 35 Jahre Wiedervereinigung. Altbundespräsident Gauck glaubt nicht, dass sich die Ost-West-Unterschiede weiter verfestigen. Warum sie immer noch bestehen – dafür hat er eine Erklärung.
Altbundespräsident Joachim Gauck ist überzeugt, dass sich die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland irgendwann doch verspielen werden. “Die Gräben werden sich schließen, nur langsamer, als wir uns das alle wünschen”, sagte der 85-Jährige am Dienstagabend in Markkleeberg beim Sachsensofa-Talk der katholischen und der evangelischen Akademie. Anders als etwa der Soziologe Steffen Mau glaube er nicht, dass sich die Unterschiede nur weiter verfestigen werden.
Gauck räumte ein, dass er vor 35 Jahren bei der Wiedervereinigung 1990 nicht gedacht habe, dass sich die Angleichung so lange hinziehen würde. “Was viele von uns übersehen, ist die Langzeitwirkung von Lebensprägungen, die tief in unsere Mentalität eingesickert sind”, erklärte der frühere Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde.
In den 40 Jahren der DDR hätten die Bürger “in politischer Ohnmacht verharrt, und die Selbstermächtigungsprägungen wurden rasant zurückgedreht”. Das galt für den ganzen Bereich des Ökonomischen und der Arbeitswelt und habe auch dazu geführt, dass zivilgesellschaftliche Aktivitäten “defizitär” gewesen seien. Das alles wirke bis heute nach: “Wir haben nicht die Trainingszeit der Ermächtigung, der bürgerschaftlichen Ermächtigung so intus”, sagte der gebürtige Rostocker.
Ostdeutsche seien deshalb nicht schlechter als andere: “Wir haben andere Lebensabläufe internalisiert und finden es daher eher als Zumutung, Verantwortung zu übernehmen und als ein Ich präsent zu sein, wenn es um öffentliche Dinge geht.” Und diese auch mentalen Prägungen würden über Generationen weitergetragen. Mit diesem psychologischen Phänomen lasse sich auch erklären, warum “sich die ostdeutsche politische Kultur noch signifikant von der westdeutschen unterscheidet”.
Mit Blick auf die Wahlergebnisse in Ostdeutschland, wo bei den jüngsten Wahlen eine deutlich gestiegene Wahlbeteiligung vor allem den Parteien an den Rändern rechts und links nutzte, räumte Gauck ambivalente Gefühle ein: “Eine große Gruppe der Wählerschaft ist mir von Grunde auf zuwider.” Aber man könne die Menschen nicht “einfach ausblenden, selbst wenn sie zutiefst widerliches, völkisches Gedankengut wählen”.