Es ist die Zeit der Maskenträger, der Abstandsregeln und in der Ukraine herrscht Krieg. Die Romanfigur „Otto“ ist 70 Jahre alt, seit kurzem ist er Witwer. In dem Roman „Alten Mann braucht niemand mehr“ (molino Verlag, Sindelfingen, 2023) erzählt Kurt Oesterle aus Tübingen von Freiheit und Gelassenheit im Alter in unserer Zeit.
Der Autor verknüpft in der Handlung autobiografische Elemente mit gesellschaftskritischem Schreiben. Er habe unbedingt „literarischer Autor werden wollen“, sagte der ehemalige Journalist dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Erzählen ist mein Ding und der Roman meine natürliche Ausdrucksweise“, sagte er. Bei der Gegenwartsliteratur beobachte er die Tendenz, nett und freundlich eine unschuldige Welt zu schildern. „90 Prozent der Gegenwartsliteratur ist gesellschaftlich irrelevant“, meinte Oesterle. „Das reicht mir nicht, Literatur muss auch gesellschaftskritisch, politisch sein“, so der 68-Jährige.
Der Held „Otto“ ist ein Mann ohne Bildung. Er liebt Jonny Cash und alles, was typisch männlich ist. Gefühle sind ihm in seinem bisherigen Leben eher suspekt gewesen. Im Alter entdeckt „Otto“ diese bisher verborgene Seite seines Wesens. Überrascht von der eigenen Verletzlichkeit, wird ihm bewusst, wofür er sich im Leben alles geschämt hat: für seine Herkunft, sein Alter, sein Geschlecht, sein Gesicht, seine mangelnde Bildung, das Plumpsklo seiner Eltern und seinen Dialekt. Und er beschließt, wenigstens jetzt, im Alter, seine Einzigartigkeit zu leben – ganz ohne Scham.
Er erlebt, wie es ist, allein zu sein. Er erkennt die Gefährdung, durch Alkohol abzustürzen. Er lässt romantische Regungen zu, indem er sich Naturerlebnissen aussetzt, die ihm bisher wesensfremd waren. Dabei entdeckt der alte Mann kleine Tiere am Straßenrand, über die er ein Leben lang hinweg gewalzt ist. Er versucht herauszufinden, ob das Leben alles Zufall ist oder ob eine größere Macht dahintersteht. Vorbereitet ist der einfache „Otto“ darauf nicht. Er weint, wenn er etwas an sich entdeckt, das er noch nicht kennt.
Mit „Otto“ habe er eine Figur geschaffen, „die immer in mir geschlummert hat und die ich nie gelebt habe“, sagte Oesterle. Eine Figur mit eigenen Kunst- und Weltvorstellungen, kein Mainstreamtyp. Ein Mensch, der lieber frei und allein ist, als in einer Gemeinschaft aufzugehen. „Wenn man gewisse Ansichten teilen muss, da halte ich nichts davon. Ich möchte meine Unabhängigkeit nicht aufgeben“, erklärt der Autor seine Einstellung. Er kenne diesen Typus noch aus seiner Heimatstadt bei Schwäbisch Hall. „Dein Vater hat doch eine Werkstatt, was gehst du denn dann aufs Gymnasium“, erinnert sich der Germanist, Historiker und Philosoph an die kritischen Worte der Dorfbewohner von damals. „Da war man schnell ein Sonderling, wenn man Abitur machte.“
So entstand „Otto“, der sich „einen Freischärler der Arbeit“ nennt. „Ich glaube, dass er im Alter mit diesem Reichtum, der ihm anfangs Angst macht, belohnt wird“, beschreibt der Autor seinen Helden. „Otto“ ist nicht grimmig und bissig, Ehrgeiz kennt er nicht. Stattdessen lässt er sich ein und wird dadurch in die Leben und Risiken anderer hineingerissen. Ganz gleich, ob es die Kinder der Anthroposophen sind, die bei ihm fernsehen, aber nichts Fleischhaltiges essen dürfen, oder ob es die liebestolle Loni ist, die ihn als Ü-80-Jährige auf der Couch verführt.
Der Roman „Alten Mann braucht niemand mehr“ ist kein Buch nur für ältere Leser. Otto hat jugendliche und alte Züge. Er hat Angst, ein AfD-Opa zu werden. Er lernt Trauer als „Grundton“ im Alter zuzulassen wie in der Jugend die Freude. Altersmürrischkeit und Depression begegnet der Zeitgenosse „Otto“ mit – teilweise grimmigem – Humor. Die Botschaft des Romans lautet denn auch: Menschliche Intelligenz und Empathie hängen nicht von Bildung und Verstandesintelligenz ab, sondern von Herzensgüte und dem Mut, sich einzulassen. (3082/26.12.2023)