Forschende aus acht Universitäten und Instituten haben drei Jahre lang sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche untersucht. Ein komplexes Projekt mit einem 871-seitigen Abschlussbericht, den Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover vergangene Woche vor laufenden Kameras und Journalistinnen und Journalisten aus ganz Deutschland präsentiert hat.
Wie haben Sie die Präsentation der Studie und die Abschlusstagung in Hannover erlebt?
Ich glaube, es ist gut, dass die Ergebnisse der Forum-Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie jetzt in der Öffentlichkeit sind und dass eine weitergehende Diskussion stattfinden kann – anhand von Daten und anderem Material, nicht mehr abstrakt oder verklausuliert.
Viele haben gezittert vor den Ergebnissen.
Für die Kirche war die Präsentation in gewisser Weise aufregender als für uns, weil die Studie Ergebnisse hervorbringt, die an den Kern der evangelischen Kirche gehen. Sexualisierte Gewalt ist in allen Handlungsfeldern von Kirche und Diakonie präsent, und das Ausmaß ist größer als bekannt. Damit muss sich die Kirche befassen.
Welche Ergebnisse gehen besonders an den Kern der Kirche?
Es besteht offenbar ein Harmoniezwang, der Wunsch, in einer idealisierten Gemeinschaft zu leben. Das ist ein Problem für die Aufarbeitung von Fällen. Zudem werden Pfarrer, aber auch Gemeindestrukturen in den Blick genommen. In unserer Studie werden viele Berufsgruppen als Beschuldigte aufgeführt, aber männliche Pfarrer spielen eine besondere Rolle. Aufgrund ihrer Stellung in der Gemeinde und wegen ihrer rhetorischen Kompetenz gibt es Pfarrer, die religiöse und seelsorgerische Beziehungen machtmissbräuchlich ausnutzen können.
Sie erforschen auch sexualisierte Gewalt in anderen Kirchen und zum Beispiel in Jugendämtern. Was hat Sie bei der Forum-Studie überrascht?
Betroffene haben uns berichtet, wie mit ihnen umgegangen wurde, wenn sie sexualisierte Gewalt meldeten. Sie sind oft mit dem Wunsch nach Vergebung für die Täter konfrontiert worden und, falls sie dies nicht getan haben, eher mit Formen von sozialem Ausschluss. Das ist ein Ergebnis der Studie und ein hochproblematischer Befund. Er bringt Fragen auch für die evangelische Theologie mit sich.
Sie haben die „schleppende Zuarbeit“ der 20 Landeskirchen kritisiert.
Wir haben allen Landeskirchen einen umfangreichen Fragebogen geschickt. Bei dessen Bearbeitung ist es zu einer erheblichen Verzögerung durch die Landeskirchen gekommen. Außerdem haben uns Landeskirchen fehlende personelle Kapazitäten zurückgemeldet. Daher konnte die Analyse aller Personalakten durch Mitarbeitende der Landeskirchen nicht mehr in der Projektlaufzeit umgesetzt werden.Nur eine kleine Landeskirche hat Personalakten analysiert.
Schon die Untersuchung aller Disziplinarakten zeigt aber klar, dass das Problem unterschätzt wird. Die Auswertung der Personalakten würde deutlich mehr Fälle sexualisierter Gewalt hervorbringen. Es ist also notwendig weiterzuschauen.
Dafür ist die Sicht der Betroffenen sehr deutlich geworden.
In unserem Forschungsverbund haben wir vor allem in vielen Teilprojekten die Perspektive der Betroffenen sichtbar erforscht. Es geht also um wesentlich mehr als nur um Zahlen. Die Reduktion der Debatte auf Zahlen lässt Betroffene und ihre Erfahrungen wieder verschwinden. Das ist nicht hilfreich.
Der Fragebogen, den Sie den Landeskirchen geschickt haben, hatte um die 100 Seiten. War das zu kompliziert?
Wir haben Strukturdaten, Datenerhaltungspraxen, Umgang mit der Dokumentation von sexualisierter Gewalt abgefragt, aber auch Angaben zu Fällen, die den Landeskirchen schon bekannt sind. Niemand von uns würde behaupten, dass der Fragebogen von einer Person an einem Nachmittag ausgefüllt werden könnte. Deswegen hatten die Landeskirchen auch mehrere Monate Zeit dafür.