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Forderung nach Schlussstrich unter NS-Zeit – Erinnern aber wichtig

Eine neue Studie zu Antisemitismus und Erinnerungskultur in Deutschland zeigt ambivalente Ergebnisse – und Wissenslücken in der Bevölkerung zur NS-Zeit. Welche Schlüsse die Macher der Studie daraus ziehen.

Antisemitismus ist in allen Teilen der Bevölkerung in Deutschland verstärkt zu finden – zugleich bleibt vielen Menschen die Erinnerung an NS-Verbrechen wichtig. 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt eine Studie ambivalente Ergebnisse. Eine Forderung daraus ist für die Verantwortlichen der Studie, dass in der Bildung in neuen Formaten die Relevanz historischer Kenntnisse für das heutige Handeln stärker hervorgehoben werden müsse.

Laut der “Gedenkanstoß MEMO-Studie” fordert mehr als ein Drittel (38,1 Prozent) der Befragten einen Schlussstrich unter die NS-Zeit – besonders stark ist diese Einstellung bei AfD-Anhängern vertreten. Veronika Hager von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft sprach am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung der Studie von einem “Kipppunkt”. Allerdings: Vor allem unter 30- und über 60-Jährige wollten keinen Schlussstrich. Das stimme hoffnungsvoll.

Gut ein Viertel (25,9 Prozent) ist darüber hinaus der Auffassung, Jüdinnen und Juden nutzten die Erinnerung an den Holocaust zu ihrem persönlichen Vorteil aus.

Erst Ende März hatte eine andere Umfrage ergeben, dass mehr als die Hälfte der Deutschen einen Schlussstrich unter der NS-Vergangenheit befürworte. Die “Zeit” hatte diese Untersuchung des Instituts policy matters in Auftrag gegeben.

Zugleich setzen die Befragten laut neuer “MEMO-Studie” aber auf die Erinnerung: So stimmen 42,8 Prozent der Aussage eher stark oder stark zu, es sei ihnen wichtig, an die NS-Verbrechen zu erinnern. 63,8 Prozent sehen im Rechtsextremismus eine große oder sehr große Gefahr.

“Antisemitische, rechtspopulistische und geschichtsrevisionistische Haltungen haben im Vergleich zu früheren Befragungen merklich zugenommen und sind nun endgültig wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen”, erklärte der Leiter der Studie, Jonas Rees, vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Er würdigte zugleich diejenigen, die sich engagierten oder grundsätzlich dazu bereit seien. Und betonte, dass 75 Prozent der Befragten bereits Gedenkstätten besucht hätten und diese damit eine wichtige Rolle in der Erinnerungskultur spielten.

Das Institut hatte mit der Stiftung in einer Online-Befragung das kritische Geschichtsbewusstsein in Deutschland untersucht. Die Befragung ist den Angaben zufolge repräsentativ. Ausgewertet worden seien Antworten von 3.000 Befragten mit dauerhaftem Wohnsitz in Deutschland sowie mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft.

Die Studie sieht auch ungenutztes Potenzial: Demnach gab mehr als ein Drittel der Befragten (37,9 Prozent) an, etwas tun zu können, um das Erinnern an NS-Unrecht mitzugestalten. Das hätten vor allem Jüngere und Studierende gesagt. Allerdings setzten sich in der Praxis nur etwa 7,9 Prozent in diesem Bereich ein.

Gezeigt hätten sich insgesamt Wissenslücken, hieß es. Sie beträfen etwa Verstrickungen von Familien und Unternehmen. Strukturelles Wissen über die NS-Zeit und die Verbrechen der Nazis sei vorhanden – je konkreter ein Vorgang jedoch werde, desto geringer seien oft die Kenntnisse, sagte Hager.

Sie betonte, dass mehr Angebote in der “geografischen Breite” nötig seien. Auch sollten örtliche Initiativen sichtbarer gemacht werden und sich vernetzen. Erinnerung müsse insgesamt stärker europäisch – und nicht lediglich national sein.