Da steht er. Und singt. Bach. „Jesu, meine Freude“ erklingt auf der staubigen Straße des Townships. Thabang ist zurückgekommen in seinen Heimatort, nach Schweizer-Reneke in Südafrika. Wo die Musik laut ist, rhythmisch und ziemlich direkt. Auch deshalb rühren diese einzelnen, warmen Töne so an. Der Mann mit der kraftvollen Stimme singt ganz weich und zart von des Herzens Weide, vom Bangen und vom Verlangen. Damit setzt er einen starken Kontrapunkt in einer Welt, in der es Menschen erleben müssen, ausgegrenzt zu werden, bloß weil sie eine andere, eine dunkle Hautfarbe haben. Würde die Welt im Geiste Bachs regiert, hätte Rassismus keine Chance, sagt Thabang. Dann gäbe es einfach nur Menschen. Ohne Unterschied und gleich geachtet. „Wenn wir das Gemeinsame finden, wird das die Welt besser machen“, sagt der IT-Techniker aus Südafrika. Er ist überzeugt davon, dass solch ein Gemeinsames die Musik von Johann Sebastian Bach (1685–1750) darstellen kann.
Diesen Gedanken teilt er mit zwei Frauen aus der Schweiz. Die Zwillingsschwestern Désirée und Annalisa sind vollkommen anders sozialisiert. Doch auch für sie hat Bach etwas zutiefst Demokratisches. In seiner Musik entdecken sie die Gleichberechtigung aller Stimmen. Ein Bild dafür, dass jede Stimme es wert ist, gehört zu werden – im Orchester, im Chor, im menschlichen Miteinander.
Weltweit über 300 Bach Chöre
Bach verbindet. Wie sehr und wie global, das zeigt die Regisseurin Anna Schmidt in ihrem Dokumentarfilm. Für „Living Bach“ hat sie auf sechs Kontinenten Menschen aufgespürt, die eine ganz besondere Beziehung zu dem barocken Meister und seinen Werken haben. „Weltweit gibt es über 300 Bach-Chöre oder Bach-Ensembles“, sagt sie. Das sei erstaunlich und einmalig und „von keinem anderen Komponisten bekannt“. Auf der Weltkarte der „Bach-Familie“ konzentriert sich die Bach-Begeisterung erwartbar auf Mitteleuropa und den Osten der Vereinigten Staaten. Aber: Bach ist auch in Südamerika, Asien, Australien und Afrika zu finden.

Diesem Phänomen ist Anna Schmidt nachgegangen. Von Leipzig nach Leipzig, einmal rund um die Welt. Die Menschen, in deren Lebenswirklichkeit sie mit ihrem Film eintaucht, hat sie mithilfe des Bachfests Leipzig gefunden. Sie gehörten zu jenen Chören, die sich 2020 für das Projekt „We are Family“ angemeldet hatten, um in der Stadt des Thomaskantors miteinander zu musizieren. Pandemiebedingt musste das Treffen auf 2022 verschoben werden, doch Anna Schmidt machte sich vor drei Jahren dennoch auf den Weg. Aus 50 potenziellen Protagonistinnen und Protagonisten filterte sie in unzähligen Video-Telefonaten jene acht Menschen heraus, mit denen sie ihre Geschichte erzählen wollte. Frauen und Männer, für die Johann Sebastian Bach nicht allein ein bedeutender Komponist ist, sondern viel mehr und vielleicht sogar auch das: eine Offenbarung.
Musik als Therapie
Anna Schmidt hat sich Zeit genommen, genau hinzusehen und hinzuhören, um zu ergründen, wie und warum Bachs Musik eine jeweils so starke und auch heilsame Wirkung entfalten kann. Wie gut sie beobachtet, wie wenig sie vorgibt, wie offen sie Stimmungen und Ereignisse aufgreift, ist in den Bildern zu lesen, die sie mit „Living Bach“ zeigt. Sie lässt die Dinge passieren und schaut dabei zu. Ihre Perspektive ist die des respektvollen Abstands; ihre Kunst ist es, aus der behutsamen Distanz eine enorme Nähe herzustellen.
So begleitet sie Jesse an einem Frühlingstag in Pennsylvania beim Besuch einer alten Dame. Noel hatte einen Schlaganfall. Wann das war, weiß sie nicht mehr. Jesse unterstützt sie als Palliativkrankenschwester. Die junge und die alt gewordene Frau teilen die Liebe zu Bach. Sie hören in die h-Moll-Messe hinein und weinen, weil die Musik so wunderschön ist. Es geht um Leben, um Tod, um Trost und Seelenfrieden. Jesse, die im ältesten Bach-Chor der USA singt, dem Bach Choir of Bethlehem, schätzt die verändernde Kraft in dieser Musik. „Bach ist meine Therapie“, sagt sie. Im Sommer 2022 singt Jesse in der Thomaskirche, ist Teil des großen „We are Family“-Chors. Wie Thabang aus Südafrika, wie Désirée und Annalisa aus der Schweiz, wie Kazuko, die Apothekerin aus Japan, und die Geigerin Bianca aus Australien, wie Architektin und Kaffeehaus-Betreiberin Lee Hai Lin aus Malaysia und der Singer-Songwriter David Portillo aus Paraguay. Für einen Moment sind diese acht am Ziel. Ihre Lebensreise mit Bach aber geht weiter.
Der Kinofilm „Living Bach“ (Deutschland, 2023), 114 Minuten, kommt ab 30. November 2023 unter der Regie von Anna Schmidt in die Kinos.