Schauspiel und das echte Leben sind nicht identisch. Diese banale Erkenntnis gilt sogar für Marie-Luise Marjan, die möglicherweise schon mal Spiegeleier brät, aber nicht in München lebt, keine Kinder hat und auch niemals in einem Reisebüro arbeitete. Dennoch entkommt die Schauspielerin, die am 9. August 85 Jahre alt wird, ihrer Lebensrolle der Helga Beimer aus der Serie „Lindenstraße“ nicht. Als Marjan sich nach einem schweren Sturz im Juni in der Öffentlichkeit zurückmeldete, konnte man in Medien Sätze lesen wie: „So hat sich Mutter Beimer wieder ins Leben zurückgekämpft“. Als hätte „Mutter Beimer“ die Absetzung der „Lindenstraße“ durch die ARD im Jahr 2020 einfach ignoriert und führte nun ein Eigenleben in der Wirklichkeit.
Jedenfalls stört es Marie-Luise Marjan „überhaupt nicht“, wenn man sie als Helga Beimer anspricht oder wenn Medien sie auf diese Rolle reduzieren. Das sei vielmehr ein großes Kompliment, erklärte sie dem Evangelischen Pressdienst (epd) per Mail: „Mit Erfolg habe ich Mutter Beimer 35 Jahre lang verkörpert, das ist eine lange Wegstrecke, ein halbes Leben.“ Wie denkt sie heute an die „Lindenstraße“-Zeit zurück? „In dem Moment, als es vorbei war, natürlich mit Wehmut, denn es war eine lange Ära in meinem Leben. Aber alles hat seine Zeit, wobei ich immer sage, wir hätten noch 35 Jahre weitermachen können, denn die aktuellen Themen, die wir immer verarbeitet haben, reißen nicht ab.“
Viele Figuren tauchten im bewegten, auf dem WDR-Gelände in Köln-Bocklemünd gedrehten Münchener Alltagsleben der fiktiven „Lindenstraße“ auf und wieder ab. Aber Helga Beimer, das weibliche Zentralgestirn des „Lindenstraße“-Universums, war immer da, von Folge 1 bis 1.758.
Sie war dreifache Mutter, zweimal verheiratet und zweimal geschieden, war Hans’ „Taube“ und Erichs „Pummelchen“, hatte zwei Enkelkinder, war anfangs Hausfrau, später Geschäftsführerin eines Reisebüros, mischte sich gerne ein und konnte gehörig nerven. In der von Hans W. Geißendörfer erfundenen Serie verkörperte Marie-Luise Marjan die klassisch-kleinbürgerliche Mutterfigur, weder besonders intellektuell noch emanzipiert, aber zäh und nicht ohne Sehnsüchte und Träume. Eine Heldin und Antiheldin zugleich.
Inge Meysel (1910-2004) wollte lieber keine „Mutter der Nation“ sein, Marie-Luise Marjan sieht das gelassener: „Mutter Beimer war meine 25. Mutterrolle, da nehme ich das Kompliment gerne an.“
Begonnen hat die Schauspielkarriere von Marjan vor mehr als 60 Jahren: Anfang der 1960er Jahre stand sie in Basel und Karlsruhe erstmals auf Theaterbühnen, seit den 1970er Jahren war sie regelmäßig in Film- und Fernsehrollen zu sehen. Zwischen 1967 und 1979 arbeitete sie am Schauspielhaus Bochum mit Regisseuren wie Peter Zadek und Hans Schalla zusammen. „Was haben wir da nicht alles getrieben“, schwärmt Marjan. „Es wurde damals richtig neues, extensives Theater ausprobiert – und die Leute, vor allem die jungen Leute, sind in Scharen gekommen.“
Wenn man sie fragt, welche Figur ihr abgesehen von Helga Beimer besonders nahe war, fällt Marjan wieder eine Mutter ein: die evangelische Pastorin Carla, die in dem ARD-Fernsehfilm „Dem Himmel sei Dank“ (2005) Frieden in ihrer Familie und in einem kleinen Dorf stiftet. „Die Geschichte spielte im Sauerland und wurde in der Nähe des Sorpesees gedreht, da wurden meine Kindheitserinnerungen wieder wach“, erklärt Marjan, die in Hattingen an der Ruhr aufwuchs.
Geboren wurde sie am 9. August 1940 in Essen als Marlies Wienkötter – Marie-Luise Marjan ist ein Künstlername. Von der Mutter in ein Waisenhaus gegeben, kam sie als Kleinkind zu Pflegeeltern, die sie später adoptierten und liebevoll aufzogen, wie Marjan in Interviews betonte. Vom Vater wusste sie lange Zeit nichts, später fand sie heraus, dass er Luftwaffenoffizier war und im Zweiten Weltkrieg ums Leben kam. Erst im Zuge der Recherchen zu der ARD-Produktion „Das Geheimnis meiner Familie“ (2008) erfuhr sie schließlich von der Existenz eines Halbbruders.
Marjan gehört zu denjenigen, die in der Öffentlichkeit stets das Positive herausstellen. Die Schauspielerei? „War und ist mein Traumberuf.“ Die Einstellung zum Alter nach dem Sturz, bei dem sie sich einen Oberschenkelhalsbruch zuzog? „Nach solch einem Ereignis erfreut man sich an den schönen Dingen noch intensiver.“
Marjan, die in Bonn lebt, ist auf Gehhilfen angewiesen und dennoch viel unterwegs: zu eigenen Lesungen, zu den Brüder-Grimm-Festspielen in Hanau, für die sie als „Märchenbotschafterin“ die Werbetrommel rührt, zu Fernseh-Auftritten und karitativen Veranstaltungen. Sie nutzt ihre Popularität seit langem für soziales Engagement, ist Botschafterin von Unicef und den Maltesern, ist mit einer eigenen Stiftung Teil der Kinderrechtsorganisation Plan International. „Weiterarbeiten und nicht aufgeben! Alle Herausforderungen annehmen und gut gestalten“, das hat sie sich für die Zukunft vorgenommen.
Sieht sie sich selbst als politischen Menschen? „Jeder Mensch sollte politisch interessiert sein, sonst übernehmen es andere für einen. Man sollte auch nicht immer auf alles und jeden schimpfen, sondern selber mit anpacken“, sagt sie. Den 85. Geburtstag will sie „mit einem schönen Fest an der Mosel inmitten meiner lieben Freunde“ feiern. Geladen sind 85 Gäste. Denn: „Das Leben kann ein Fest sein – in jedem Alter.“