Für den Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats, Helmut Frister, schwindet das Verständnis von Solidarität in der Gesellschaft. “Wir alle können uns schließlich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass den Menschen ein solidarisches Miteinander zunehmend weniger gelingt”, sagte Frister zum Auftakt der diesjährigen Jahrestagung des Ethikrats. Diese steht unter dem Motto “Gelingende Solidarität”.
Nicht nur in Kriegen wie in der Ukraine und im Nahen Osten, sondern auch in der internationalen Politik allgemein, scheine “die Berufung auf das Recht des Stärkeren wieder zunehmend salonfähig zu werden”, so Frister weiter. Parallel dazu gebe es auf nationaler Ebene in der gesamten sogenannten westlichen Welt ein Erstarken politischer Gruppen, die den Menschen weismachten, Probleme ließen sich lösen, indem andere ausgegrenzt und zu Sündenböcken gemacht würden.
Ethikrat: Statement für mehr Solidarität
“Wenn der Deutsche Ethikrat in dieser Situation eine Jahrestagung ‘Gelingende Solidarität’ veranstaltet, soll dies zugegebenermaßen auch ein ethisches Statement gegen diese Entwicklung, vor allem aber ein Akt der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung sein”, bekräftigte Frister.

“Am Beispiel des politisch und gesellschaftlich besonders umstrittenen Themas der Migrationsgesellschaft wollen wir die zentrale Frage erörtern, wie Solidarität gelingen kann”, führte Frister weiter aus. Bei aller berechtigten Krisenstimmung werde Solidarität im sozialen Alltag von vielen Menschen in hohem Maße mehr oder weniger selbstverständlich und sehr erfolgreich praktiziert, betonte der Rechtswissenschaftler.
Auch der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse blickt sorgenvoll auf den Zustand gesellschaftlicher Solidarität. In ausgesprochen dramatischen Situationen gelinge die Solidarität oftmals. Aber sie sei durchaus eine knappe Ressource und Solidaritäten würden auch gegeneinander ausgespielt. Umso größer sei die Bedeutung eines funktionierenden Sozialstaats – “eine große europäische Kulturleistung”. Dieser lebe von der Bereitschaft und Fähigkeit der Bürger, ihn zu tragen und zu finanzieren, erinnerte Thierse. Andernfalls könne Vertrauen verloren gehen.
Wo Solidarität ihre Grenzen hat
“Für viele Menschen gilt: Man ist gerne solidarisch, aber bitte freiwillig, spontan und eher auf einen Nahbereich bezogen”, sagte Thierse. Sobald Solidarität den Geruch von Verpflichtung erhalte, nehme die Ablehnung zu. Das sei in der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen deutlich geworden, aber auch in der Debatte über ein soziales Pflichtjahr. Diese ideologische Überhöhung der individuellen Freiheit und zugleich Ablehnung von Solidaritätspflichten irritiere ihn sehr, sagte der 81-Jährige.
Besonders harte Kritik übte der SPD-Politiker an einem aus seiner Sicht weit verbreiteten oberflächlichen Verständnis von Freiheit. Die Idee, “Regisseur des eigenen Lebens” zu sein, mache aus den Mitmenschen Assistenten; “Freiheit bekommt auf diese Weise Fetisch-Charakter”, klagte der SPD-Politiker. Jeder müsse begreifen, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehörten. Sonst werde Freiheit zum “Recht des Stärkeren”, warnte Thierse.