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Es ist schwer, die Hoffnung auf Frieden wachzuhalten

Mehr als 3000 Raketen feuerte die Hamas aus dem Gaza-Streifen auf Israel ab. Zehn Tote und über Hundert Verletzte sind zu ­be­klagen. Umgekehrt kamen bei israelischen Bombardierungen im Gaza mehr als 200 Menschen ums Leben, über 1200 wurden verletzt. Wie erlebt und beurteilt das ein deutscher Pfarrer, der in ­Jerusalem lebt? Sibylle Sterzik sprach mit Propst Joachim Lenz über Raketenalarm, eskalierende religiöse Konflikte, die deutschsprachige Erlösergemeinde im Heiligen Land und die schwierige Suche nach Lösungen.

Sirenen heulen, Menschen sterben, der Hass keimt neu auf: Wie geht es Ihnen persönlich, Herr Lenz, wenn Sie von dem Raketenbeschuss und den ­Todesopfern hören?

Seit ich im August 2020 meine Stelle antrat, gab es strikte Lockdowns. Das Leben begann sich in den vergangenen Wochen zu normalisieren. Da kamen die schweren Unruhen, jetzt die Raketen und Bomben. Dabei fühle ich mich in der Propstei im Herzen der Altstadt durchaus persönlich sicher und privilegiert.

Mir tun die Menschen in Israel und Palästina, die Gewalt und Angst derzeit direkt erleben, von ganzem Herzen leid. Viele sind ja durch die Pandemie wirtschaftlich und seelisch schwer angeschlagen. Das Elend vor allem im Gaza-Streifen ist auch ohne die Eskalation von Hass und Gewalt schlimm.

Bisher war Tel Aviv betroffen, die Raketen könnten aber auch Jerusalem treffen. Welche Maßnahmen werden jetzt ergriffen?

Es war nicht nur Tel Aviv. Mehr als 3500 Raketen wurden aus dem Gaza-Streifen abgeschossen, viele Städte sind betroffen. Jüdische und arabische Israelis sitzen oft gemeinsam im Bunker.

Und Jerusalem? Ich habe vor einer Woche zum ersten Mal in meinem Leben einen Luftalarm miterlebt, als die Heilige Stadt beschossen wurde. Die Menschen wissen auch hier, wie sich im Angriffsfall zu verhalten haben. Die meisten Häuser und Wohnungen haben Schutzräume. Wir liegen aber außerhalb der Reichweite der allermeisten Hamas-Raketen.

Direkter und daher bedrohlicher wirkten da die nächtlichen ­Zusammenstöße von fanatisierten muslimischen Gruppen oder extremistischen jüdischen Siedlern mit der israelischen Polizei. Die fanden ja in direkter Nachbarschaft statt; die Brennpunkte am Damaskustor oder auf dem Tempelberg sind ja nicht einmal einen halben Kilometer von der Erlöserkirche entfernt.

In der Kleinstadt Lod bei Tel Aviv, in der jüdische und arabische Israelis ­zusammenleben, schändeten Araber eine ­Synagoge und setzten sie in Brand, wird berichtet. Eskalieren nun auch die religiösen Konflikte ­wieder?

Diese Gefahr steht tatsächlich im Raum! Extremisten beider Seiten haben in mehreren Städten Jagd aufeinander gemacht, Israels Staatspräsident warnt vor einem Bürgerkrieg, der Ministerpräsident droht radikalisierten jüdischen Gruppen mit scharfer Strafverfolgung. Da brechen sich Ärger, Unzufriedenheit und letztlich ein Hass die Bahn, die über Jahrzehnte angewachsen sind. Der Hass wird dann religiös überhöht, wenn sich beispielsweise die Hamas als Wächterin über die ­­Al-Aqsa-Moschee und die Gläubigen bezeichnet. Religion kann zum Guten und zum Bösen gebraucht werden. In diesem Konflikt hier haben die Falken das Sagen, und die, die Frieden stiften, sind derzeit in der Unterzahl. Aber es gibt sie: ­jüdisch, christlich und muslimisch.

Es wird übrigens oft vergessen zu sehen, dass die große Mehrzahl der jüdischen und muslimischen, ­israelischen und palästinensischen Menschen nachweislich schlicht in Frieden und Gerechtigkeit leben will. Unsere palästinensische Schwesterkirche, die Evangelisch-lutherische Kirche in Jordanien und dem Heiligen Land (ELCJHL), kritisiert die israelische Besatzungspolitik und lehnt gleichzeitig jeden bewaffneten Konflikt ab. 

Oder: Als am vergangenen Freitagabend im Ramadan die Gewalt auf dem Tempelberg, dem muslimischen Haram al-Sharif, eskalierte, kämpften wenige hundert junge Araber mit der Polizei. 90000 Muslime hatten dort tagsüber friedlich gebetet.

Worin sehen Sie die Ursache der Eskalation?

In den seit Jahrzehnten ungeklärten politischen Fragen des Nahostkonfliktes. Im Mangel an Visionen und Hoffnung, im Fehlen von Gesprächen und von guten Lösungsan­sätzen. Seit Jahren kommt es immer wieder zu Eskalationen; auf beiden Seiten gibt es tatsächlich Menschen, die mit Achselzucken auf Raketen oder erschossene Demonstranten reagieren. Wer nun konkret was ausgelöst hat, ist nicht leicht zu sagen; als evangelischer Pfarrer bin ich auch nicht dazu berufen, Schuld­zuweisungen zu treffen.

Klar ist aber: Es muss möglichst schnell einen Waffenstillstand geben und es darf dann nicht dabei bleiben. Eine friedliche Zukunft und mög­liche Wege dahin müssen wieder in den Blick genommen werden, damit nicht in ein paar Jahren der nächste Gewaltausbruch kommt. Wir Christenmenschen hier bitten daher jetzt besonders Gott um seinen guten Geist für die Verantwortlichen bei den verfeindeten Gruppen. 

Sie sind Pfarrer der Erlösergemeinde in Jerusalem. Wie reagieren die Menschen Ihrer Gemeinde darauf?

 Wir sind die Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in Jerusalem. In normalen Zeiten kommen Freiwillige, Gemeindegruppen, Pilger und Touristinnen zu uns und sind dann auf Zeit Teil unserer ­Gemeinde. Wegen der Corona-Beschränkungen sind hier derzeit aber nur noch ­Menschen, die seit vielen Jahren im Land leben oder die trotz Corona bei Stiftungen, Botschaft oder NGOs ­arbeiten. 

Wer sich jetzt hier im Land aufhält, ist gut informiert. Wir meiden Orte, an denen es zu Ausschreitungen kommen wird – das ist selt­samerweise sehr präzise vorherzusagen. Das deutsche Vertretungsbüro in der Westbank hält uns mit aktuellen Informationen und Ratschlägen gut auf dem Laufenden. Für manche Alteingesessenen ist es, Gott sei’s geklagt, „nur“ eine weitere von vielen gewalttätigen Phasen hier im Land. Für viele ist es schwer, die Hoffnung auf Frieden in sich wachzuhalten.

Wird Unterstützung organisiert, zu Solidarität aufgerufen oder zu Friedensgebeten oder Mahnwachen eingeladen?

Das christliche Viertel in der Jerusalemer Altstadt, in der unsere Erlöserkirche steht, ist in den letzten Tagen fast menschenleer gewesen. Wie von den Behörden empfohlen, bleiben viele Menschen daheim. Auch aus unserer deutschen Gemeinde kommen nur wenige in die Altstadt. Nein, eigene Treffen zu Mahnwachen oder Gemeindeveranstaltungen gehen derzeit nicht. Da sind wir formal eher hilflos.

Um Frieden beten wir in unseren Gottesdiensten zu Himmelfahrt oder sonntags – mit denen, die hierherkommen können. Und wir bitten unsere Geschwister in Deutschland und in der Ökumene, mit uns um Frieden im Heiligen Land zu beten. Dabei bekommen wir, Gott sei Dank, ganz viel Unterstützung.

Joachim Lenz ist seit 2020 Propst in Jerusalem und Pfarrer der evangelischen Gemeinden Deutscher Sprache in Israel und Palästina. Von 2015 bis 2019 war Lenz ­Theologischer Vorstand und Direktor der Berliner Stadtmission.