MÜNSTER – Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Münster hat den früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck mit der Ehrendoktor-Würde ausgezeichnet. Wie der Dekan der Fakultät, Professor Hans-Peter Großhans, betonte, werde mit diesem Titel Gaucks Lebenswerk in Kirche, Zivilgesellschaft, Politik und höchsten Staatsämtern gewürdigt. „Sie sind vielen Studierenden ein Vorbild und ein Hoffnungszeichen“, unterstrich Großhans.
Seinen Festvortrag widmete der ehemalige Bundespräsident dem Thema Toleranz. Er gab zu bedenken, dass die Toleranz dem Einzelnen Überwindung abverlange und für jeden eine Herausforderung darstelle. „Nur wenn Differenzen ausgehalten werden, ist ein friedliches Zusammenleben möglich“, mahnte der ehemalige Bundespräsident. „Die Toleranz nimmt heute nämlich ab statt zu.“ Spaltungen, Hass und Shitstorms im digitalen Raum sowie extreme Positionen in der Politik machten sich immer mehr breit.
Die große Mehrheit der Deutschen singe ein Loblied auf die Toleranz, wehre sich aber zugleich gegen ein Flüchtlingsheim in der eigenen Nachbarschaft. „Toleranz fordert, zu ertragen, was uns stört, zu erdulden, was uns zu erdulden schwerfällt“, betonte Gauck. Sie sei eine Tugend, die viel abverlange, aber nicht mit dem Gutheißen von Positionen, Offenheit, Gleichgültigkeit oder Akzeptanz verwechselt werden dürfe.
Die offene Gesellschaft mute allen zu, mit Kritik, Streitkultur und Schmähung zu leben. „Wer es nicht lernt, zu ertragen, dass der andere andere Auffassungen vertreten kann, hat es schwer, in der Demokratie anzukommen.“ Das dürfe aber nie eine Rechtfertigung für Gewalt und Terror sein, so Gauck. Für Leute, die Anschläge auf Flüchtlingsheime verübten, dürfe es keine Toleranz geben.
Andererseits warnte der Altbundespräsident davor, Zugewanderten vorschnell „einen kulturellen Rabatt“ einzuräumen oder aus Furcht vor Diskriminierungsvorwürfen bei Vorgängen wie in der Kölner Silvesternacht vor zwei Jahren wegzuschauen. Über Intoleranz in Zuwandererfamilien dürfe nicht geschwiegen werden. „Wer Toleranz beansprucht, muss auch Toleranz üben“, unterstrich Gauck und kritisierte zugleich „eine zeitgeistgeprägte Moral, die keine anderen Götter neben sich duldet“ sowie den Druck, der von allzu viel politischer Korrektheit ausgehen könne. „Wir dürfen das Feld des Sagbaren nicht immer weiter eingrenzen und nicht jeden Unterschied in der Gesellschaft auslöschen“, erklärte das frühere Staatsoberhaupt. Gerade auch in der Flüchtlingsfrage brauche die Politik die Unterstützung von Mehrheiten. Nur noch den Erwartungen der Leitmilieus in öffentlichen Debatten zu entsprechen sei gleichbedeutend mit Selbstzensur. „Wir brauchen einen weiten Debattenraum und eine größere Bandbreite der Diskussionen, denn wir sind nicht Weimar, sondern eine starke Demokratie.“
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Ertragen, was uns stört
Joachim Gauck erhält die theologische Ehrendoktorwürde der Universität Münster und ruft zu mehr Toleranz auf

Peter Lessmann