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Erst im zweiten Anlauf wird Friedrich Merz zum Kanzler gewählt

Eigentlich sollte die Wahl von Friedrich Merz zum Bundeskanzler reine Routine sein. Doch es kam anders. Über einen Tag in Berlin, der in die Geschichtsbücher eingehen wird.

Im zweiten Anlauf hat er es dann geschafft. Am Dienstagnachmittag wurde Friedrich Merz vom Bundestag zum Bundeskanzler gewählt. Am Ende eines turbulenten Tages erreichte der Kandidat der Union das Ziel. 316 Stimmen mustte er auf sich vereinen, 325 waren es schließlich.

Vorausgegangen war ein harter Schlagabtausch der im Bundestag vertretenen Parteien, bevor ein Geschäftsordnungsantrag verabschiedet wurde. Erst dieser machte den Weg zum zweiten Wahlgang überhaupt erst frei. Klar ist schon jetzt: Der neue Kanzler steht unter einem enormen Druck – und startet nach Ansicht von Beobachtern seine Amtszeit mit einem Makel.

Rückblick auf den Vormittag: Im ersten Wahlgang erhält Merz nur 310 Stimmen. Der CDU-Vorsitzende ist damit der erste Bundeskanzler, der nicht im ersten Wahlgang gewählt wurde. Ein historischer Moment – mit ganz konkreten Folgen im gut geölten Politikbetrieb der Hauptstadt.

Die in den Ministerien geplanten Amtsübergaben verschoben sich. Die Fraktionen zogen sich unterdessen geschlossen zu Beratungen zurück. Über Stunden wirkte der Plenarsaal recht leer. Nur die Reihen der AfD blieben zum Teil gefüllt. Der bisherige Amtsinhaber Olaf Scholz verließ den Sitzungssaal mit einem ungläubigen Kopfschütteln. Am Abend zuvor war der SPD-Politiker mit dem Großen Zapfenstreich verabschiedet worden.

Es herrschte Fassungslosigkeit im Hohen Haus. “Sprachlos” – mit diesem Wort umschrieb das Urgestein der Grünen, Renate Künast, die Stimmung in ihrer Fraktion. Es fehlten Spielregeln, wie mit einer solchen Situation umzugehen sei. Unions-Fraktionschef Jens Spahn (CDU) zeigte sich dennoch entschlossen. Natürlich habe man dieses Szenario im Kopf gehabt. Die Fraktion stehe nach wie vor geschlossen hinter Merz, und gemeinsam mit der SPD werde man ihn erneut zur Abstimmung stellen: “Es wird einen zweiten Wahlgang geben.”

Gleich nebenan, inmitten der Traube von Journalisten, drehte ein AfD-Abgeordneter ein Video für seinen Social Media-Auftritt. Der Ton dabei wenig überraschend und umso schärfer: Merz sei als Kanzler bereits gescheitert, bevor er gewählt sei. Und das, so der Abgeordnete, trotz großer Zugeständnisse an die SPD. Linken-Co-Chef Jan van Aken sagte im ARD-Interview das, was auch nach der für Merz erfolgreichen Wahl im Raum steht: Wie kann der Politiker das Land hinter sich vereinen, wenn das nicht einmal mit den Regierungsfraktionen gelingt?

Grünen-Politikerin Künast konstatiert eine grundsätzliche Schwäche bei Merz: “Er bindet nicht zusammen.” Überdies habe er in den eigenen Reihen Erwartungen geschürt, die er nicht einhalten könne. “Er hat seine Parteifreunde auf den Baumwipfel getrieben und kann sie jetzt nicht mehr in die Realität zurückholen.” Das führe zu Frustration und Entfremdung.

Ein SPD-Abgeordneter beteuert, in den Reihen seiner Fraktion habe sich ein mögliches Debakel nicht abgezeichnet. Noch am Montag gab es demnach eine Aussprache mit Merz, bei der auch kritische Fragen gestellt worden seien. Abweichler aus den eigenen Reihen schloss der Sozialdemokrat nahezu aus.

Draußen, um den dem Reichstag herum, war es zur Mittagszeit gespenstisch leer, die Polizei hat das Gelände großräumig abgesperrt. In langen Reihen stehen schwarze Dienstlimousinen hinter dem Gebäude – als hätte jemand plötzlich eine Stopp-Taste gedrückt. Am Rand der Bannmeile schwenken einige Demonstranten Deutschlandfahnen und Flaggen mit Friedenstauben. Musikfetzen wehen über den Rasen, die Songzeile “Wann wachen wir auf?”, brennt sich ins Gedächtnis. Auf einem großen Banner steht: “Wir haben die Schnauze voll.”

Über Stunden ist unklar, wie es weitergeht. Erst nachmittags erfolgt dann der zweite Wahlgang. Der Applaus nach der Wahl von Merz klingt erleichtert, dessen Vorgänger Olaf Scholz gehört zu den ersten Gratulanten. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner fragt den CDU-Poliker, ob er die Wahl annehme. Merz antwortet: “Frau Präsidentin, ich bedanke mich für das Vertrauen und ich nehme die Wahl an.” Wie hatte es der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, Karl Jüsten, nach dem ersten Wahlgang formuliert? “Wir brauchen eine stabile Regierung in diesen schweren Zeiten.”