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Endgültig Schicht im Schacht

Am 21. Dezember schließt die letzte Steinkohlezeche Deutschlands. Viele Städte haben den Kohleausstieg schon hinter sich. Zum Beispiel Castrop-Rauxel. Der Journalist Stephan Kosch beschreibt, vor welche Aufgaben der Strukturwandel auch die Kirche stellt

Der Koloss ruht oben in gut sechzig Meter Höhe. Die große Seilscheibe, die sich jahrzehntelang über Schacht 7 drehte, konntest du immer sehen, beim Einkaufsbummel in der Altstadt. Oder auf dem Weg zur „Omma“, die schräg gegenüber wohnte, stets den Ofen anhatte, weil sie lieber auf Kohlen kochte als auf dem E-Herd. Schließlich hat ihr Mann auf der Zeche gearbeitet und sein Leben dort gelassen. Ihr jüngster Sohn, mein Onkel, wurde auch Bergmann, verlor ein Auge und einen Daumen unter Tage. Sein Sohn Karsten arbeitete auch auf dem Pütt, ist seit einigen Jahren in einer Art Vorruhestand und hat eine Riesenwut im Bauch. Später werde ich ihn treffen unter dem Turm, der jetzt ein Denkmal ist.
Denn Erin, die Zeche, die ihr Gründer nach seiner Heimat Irland benannt hatte, wurde 1984 geschlossen. Die 75 000 Einwohner Cas­trop-Rauxels mussten einen weiteren Schritt gehen im Strukturwandel, den die Reviere in der Lausitz und im Rheinland noch vor sich haben. Und auch das Ruhrgebiet ist durch diesen Prozess noch lange nicht durch.

Der Förderturm wurde zum Denkmal

Das weiß auch Stefan Bunse. Wenn er morgens in sein Büro kommt, fällt der Blick auf den Erin-Turm. Die Arbeitsagentur Castrop-Rauxel, die Bunse leitet, liegt schräg gegenüber des ehemaligen Zechengeländes. „Wenn ich den Förderturm sehe, wird mir immer wieder bewusst, dass Kohle und Stahl hier im Ruhrgebiet mal die größten Arbeitgeber waren. Und wie schwer und lang der Weg war, dahin zu kommen, wo wir jetzt sind.“ Seit den Sechzigerjahren sei der Strukturwandel Thema im Ruhrgebiet, mittlerweile finde der „Strukturwandel nach dem Strukturwandel“ statt. Die großen Betriebe, Opel und Nokia, die in der Nachbarstadt Bochum Ersatzarbeitsplätze für die Montanindustrie schufen, sind schon wieder Vergangenheit.
Aber Bunse kann auf Erfolge verweisen. Aktuell liegt die Arbeitslosenquote bei gut acht Prozent, doppelt so hoch wie im Bundesschnitt, aber in der Stadt der niedrigste Wert seit der Wiedervereinigung. Es gibt neue Jobs, vor allem im Gesundheitsbereich. Jeder vierte sozialversicherungspflichtige Beschäftige im Kreis Recklinghausen, zu dem auch Castrop-Rauxel gehört, arbeitet in diesem Sektor. Im Gewerbepark unter dem Förderturm haben sich mittlerweile auch Dienstleister angesiedelt, die Arbeitslose entsprechend weiterbilden. „Früher wurde hier Kohle produziert, heute Altenpfleger und -pflegerinnen“, sagt Bunse.
Aber er weiß auch, ein Pfleger verdient deutlich weniger als ein Bergmann. Und nicht jeder ist für die Arbeit im Krankenhaus oder Altenheim geeignet. Für meinen Vetter Karsten jedenfalls war das keine Alternative. Er steht unter dem Turm, blonde Haare, Schnauzbart, und natürlich ein Kreuz wie ein Bergmann. Das war er über dreißig Jahre lang, die ersten davon als Schlosser-Lehrling hier auf Erin. Ich hatte jahrzehntelang keinen Kontakt zu ihm, lebe ja nicht nur in einer anderen Stadt, sondern in einer anderen, rot-grünen Welt, bin für Klimaschutz, Energiewende und Kohleausstieg. Und mein Vetter Karsten? Ist nur wenig älter als ich, witzelt über Umweltschützer, postet auf Facebook Erinnerungen an den Bergbau, Fotos von kleinen selbstgemachten Werkstücken mit Bergmannsinsignien – und hin und wieder auch die Slogans der AfD.
Damit ist er keine Ausnahme mehr in der früheren sozialdemokratischen Hochburg. Knapp zwölf Prozent holte die AfD bei der letzten Bundestagswahl in Castrop-Rauxel, in anderen  Ruhrgebietsstädten noch deutlich mehr. Was ist passiert?
Karsten Kosch ist stolz, ein Bergmann zu sein: „Ich habe ein Praktikum auf der Zeche gemacht und danach war klar, dass ich da arbeiten wollte und nicht in irgendeiner Fabrik“, sagt er. Denn die Arbeit dort sei etwas ganz Besonderes gewesen. „Wenn du auf der Zeche bist, dann lebst du in einer Familie. Das sind alles deine Brüder unter Tage, egal ob Deutsche, Türken oder Jugoslawen. Man hat aufeinander aufgepasst, jeder fühlte sich auch für den anderen verantwortlich.“
Wie geht das zusammen? Die Kumpel aus anderen Ländern waren wie Brüder, aber jetzt eine Partei wählen, die gegen Ausländer hetzt? Seine Antwort: „Ein Bergmann schimpft nicht auf Ausländer, sondern auf die fehlende Ordnung! Das gesamte System wird fallen gelassen, seitdem die großen Firmen weg sind.“ Der Stolz des Bergmanns wird zur Wut. Wer seinen Job stets ordentlich gemacht hat, sich um seine Kumpel kümmerte, konnte davon ausgehen, dass sich auch die anderen  kümmern, die Betriebsleitung, die Gewerkschaften und allen voran die Politik. Aber dieses Konglomerat der Kümmerer, das für sozialen Frieden sorgte, ist verschwunden. „Ich fühle mich im Stich gelassen, als Bergmann, wie als Deutscher.“

Das Gefühl, im Stich gelassen zu werden

Dem Gefühl von „Verlassen-Werden“ ist Jürgen Klute oft begegnet. Er war ab 1989 Leiter des Sozialpfarramtes im Kirchenkreis Herne, zu dem auch Castrop-Rauxel gehört. Er hat den Kontakt zu den Bergleuten gesucht, sich für diejenigen eingesetzt, deren Arbeitsplätze vom Strukturwandel betroffen waren. „Wir waren sozialpolitisch auf Seiten der Bergleute. Es war klar, dass wir vor allem aus ökologischen Gründen aus dem Bergbau raus mussten, aber das muss sozialpolitisch begleitet werden. Und das ist auch meine Position heute, die man bis Hambach, Garzweiler und in die Lausitz verlängern kann.“
Mit Blick auf die dort zu erwartenden Probleme, die der Strukturwandel mit sich bringt, sieht er für die Kirchengemeinden wichtige Aufgaben. Denn sie seien nicht in politische und ökonomische Entscheidungen eingebunden, werden vielleicht die letzten sein, die Moderation leisten könnten. Es sei wichtig Präsenz zu zeigen, Traditionen, Trauer und Erinnerungen Raum zu geben, dafür zu kämpfen, dass die Bergleute nicht vergessen werden. Es gehe darum, zu hören, was den Menschen auf den Nägeln brennt. „Wenn man die AfD zurückdrängen will, geht es nur so.“