Das Seelsorgeprojekt KIM für Menschen in der Prostitution bietet offene Gespräche und Seelsorge in der Kirche sowie an Orten der Prostitution im Großraum Nürnberg an. Miriam Karg, Studentin der evangelischen Theologie, hat das Projekt ins Leben gerufen.
epd: Frau Karg, wie sieht ein typischer Arbeitstag bei KIM aus?
Karg: Ich besuche mit einer Kollegin der AIDS-Beratung oder der Beratungsstelle „Nona“ Prostitutionsstätten. Dort informieren wir Menschen in der Sexarbeit über unser Beratungs- und Unterstützungsangebot, bieten Gespräche an und stellen Hygieneartikel bereit. Zusätzlich biete ich jeden Montag seelsorgliche Gespräche in der Beratungsstelle „Offene Tür“ an.
epd: Wie reagieren die Menschen auf Ihre Besuche?
Karg: Unser Angebot kommt bei vielen Menschen gut an. Sie schätzen es, sich auszutauschen und über ihren Alltag und ihre Arbeit zu sprechen. Für viele Menschen, die wir treffen, ist ihr Arbeitsalltag von Alleinsein und Warten geprägt. Wir legen großen Wert auf Beziehungsarbeit und den Aufbau von Vertrauen. Einige Menschen haben kein Interesse an unserem Angebot. Viele wiederum sind dankbar, dass wir sie besuchen. In diesem sensiblen Kontext ist Vertrauen entscheidend.
epd: Haben Sie eine eindrucksvolle Begegnung, von der Sie erzählen können?
Karg: Gestern hatte ich ein berührendes Erlebnis mit einer Frau, die ich durch meine Arbeit kenne. Sie schrieb mir über WhatsApp, dass sie einen anstrengenden Tag hatte und sehr müde war. Sie erzählte mir, dass sie mit ihrer Kollegin gesprochen hatte. Beide hatten beschlossen, in die Kirche zu gehen, um „ein bisschen den Kopf freizukriegen“, wie sie es nannte. Sie fragte mich, ob ich dazukommen würde. Es berührt mich sehr, wenn die Gespräche oder die gemeinsame Zeit den Menschen guttut und sie in der Kirche ein bisschen Frieden oder neue Kraft finden.
epd: Welche Themen beschäftigen die Frauen?
Karg: Ein großes Thema ist der Arbeitsalltag in der Sexarbeit. Viele beschäftigt die Ungewissheit, welche und wie viele Kunden an diesem Tag kommen werden. Oft sprechen die Menschen auch über ihre Familien und Kinder. Gerade, wenn die Familie an einem anderen Ort lebt, kann die Distanz zu emotionalen Belastungen führen. Spirituelle und religiöse Fragen kommen auch häufig auf. Einerseits gibt vielen der Glaube Halt, andererseits führt aber die Tätigkeit als Sexarbeiterin und Sexarbeiter bei manchen zu inneren Konflikten. Auch Lebensthemen wie Krankheit, Trauer, Einsamkeit und Depressionen sind Inhalte der Gespräche. Man kann die verschiedenen Lebensgeschichten nicht in ein Schema zwängen. Jedes Gespräch und jede Begegnung sind einzigartig. Manche Gespräche werden durch Gesten geführt, wenn Worte oder eine gemeinsame Sprache fehlen. Manchmal gibt es Begegnungen, bei denen kein Gespräch zustande kommt, und das ist in Ordnung.
epd: Was wünschen sich die Frauen von Ihnen, wenn Sie zu Ihnen kommen?
Karg: Ich erlebe oft den Wunsch, in den Kirchraum zu gehen, ein Gebet zu sprechen, eine Kerze anzuzünden oder ins Gespräch zu kommen über die Themen, die die Personen beschäftigen. Vielleicht ist es der Wunsch, ein wenig Last in der Kirche abzulegen. Oder der Wunsch, ein bisschen Trost zu finden in dem Licht einer Kerze.
epd: Wie ist das Seelsorgeprojekt entstanden?
Karg: Während meines Studiums habe ich ehrenamtlich in verschiedenen Beratungsstellen gearbeitet, die Menschen in der Sexarbeit unterstützen, unter anderem bei der Beratungsstelle „Mariposa“ in Karlsruhe. Außerdem habe ich bei der aufsuchenden Arbeit der Anlaufstelle „Nona“ in Nürnberg mitgewirkt. Mein Interesse für diese Arbeit hat sich eher zufällig entwickelt. Über eine Bekannte, die bereits in diesem Bereich aktiv war, kam ich dazu und blieb dabei. Der Wunsch, in einer Kirche zu arbeiten, die allen Menschen offen und respektvoll begegnet und sich für verschiedene Berufs- und Personengruppen engagiert, motivierte mich, ein seelsorgliches Unterstützungsprojekt aufzubauen. Viele der Menschen sind religiös geprägt, einige orthodox durch ihre Herkunft aus Rumänien oder Bulgarien. Bei meinen Recherchen stellte ich fest, dass es in Bayern kein seelsorgerisches Angebot für diese Zielgruppe gab. Später erzählte ich meinem früheren Praktikumsbetrieb von dieser Lücke. Nach und nach konkretisierte sich die Idee zu KIM.
epd: Was bedeutet Seelsorge für Sie?
Karg: Das finde ich gar nicht so einfach, kurz in Worte zu fassen. Seelsorge bei KIM bedeutet für mich, einen Raum zu schaffen, in dem mein Gegenüber eine Bühne bekommt, um sich mitzuteilen. Dort kann er den Bühnenvorhang so weit schließen oder öffnen, wie es für den Moment passend ist. Es geht für mich auch darum, Anteil zu nehmen an dem, was mein Gegenüber bewegt und das zusammen zu halten und aushalten zu können für den Moment. Das kann in Worten, im Schweigen oder auch in einem Gebet geschehen.
epd: Werden Sie in Ihrer Seelsorgearbeit ausreichend von der Kirche unterstützt?
Karg: Ja. Die Kirche unterstützt mich in vielerlei Hinsicht. Das Projekt MUT der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern hat mich über einen Zeitraum von drei Jahren unterstützt und zu großen Teilen finanziell gefördert und tut dies immer noch. Kirchengemeinden und Einzelpersonen unterstützen mich durch Spenden. Das Team der „Offenen Tür“ unter der Leitung von Barbara Hauck hat mich von Anfang an herzlich willkommen geheißen. Sie sind ein wichtiger Rückhalt für mich bei KIM, ebenso wie die Stadtmission, insbesondere die AIDS-Beratung. Es ist noch unklar, wie es nach dem dritten Jahr im Sommer 2025 ohne die Förderung durch MUT weitergehen wird. Ich finde es wichtig, darüber nachzudenken, wie solche Projekte von Kirche auch zukünftig gefördert werden können. Deshalb hoffe ich auf weitere Unterstützung und eine langfristige Perspektive für KIM über das dritte Jahr hinaus. (00/1878/20.06.2024)