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Eins im Quartier

Die Kirchengemeinde Bochum hat ein Experiment gewagt: Weil die Christen immer weniger wurden, hat sie ihre Friedenskirche umbauen lassen: zu einem Treffpunkt für alle Menschen des Viertels. Und da ist richtig was los

Die Glocken läuten. Es ist Mittwoch, zwölf Uhr am Mittag. Während in anderen Kirchen und Gemeindehäusern um diese Zeit zumeist gähnende Leere herrscht, ist hier, in der umgebauten und erweiterten ehemaligen Friedenskirche Bochum-Stahlhausen, richtig was los. Im Foyer sitzen Frauen und Männer und unterhalten sich, einer der hinteren Gruppenräume ist voll besetzt mit Erwachsenen, die über ihrem Lernstoff brüten.
Dass hier im Hause an diesem Tag Leben ist, liegt daran, dass die Friedenskirche Bochum zwar irgendwie noch Kirche ist, irgendwie aber auch nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr im ganz klassischen Sinne. Deshalb wurde sie vor einem Jahr auch „umgetauft“. Sie heißt nun „Q1“.

Haus für Kultur, Religion und Soziales

„Q1 – Eins im Quartier. Haus für Kultur, Religion und Soziales im Westend“, so lautet der offizielle Name des jetzigen Stadtteilzentrums, und der ist Programm: Das Gebäude, angesiedelt in einem von Menschen verschiedener Herkunft bewohnten Stadtteil von Bochum, ist ein Ort der Begegnung, wo sich große und kleine Leute über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg treffen und austauschen können.
Hier wird musiziert und getöpfert, nachgedacht und diskutiert, gebetet, gespielt und gelernt. An diesem Mittwoch etwa sind Männer und Frauen versammelt, um im Integrationskurs erste Schritte in die deutsche Gesellschaft zu tun.  
 Vor genau einem Jahr, am 12. Juni 2015, wurde das Haus mit seiner neuen Zielrichtung offiziell eröffnet. Pfarrer Holger Nollmann freut sich über das seiner Meinung nach gelunge Ergebnis eines Umbauprozesses, der eine „überwältigende Eigendynamik“ entwickelt habe.
Dabei standen am Anfang auch Trauer und Ratlosigkeit. Vor etwa zehn Jahren habe sich die Gemeinde ernsthaft die Frage stellen müssen, ob die erst in den 1960er Jahren gebaute Friedenskirche noch zu halten sei. Angesichts des gesellschaftlichen und demographischen Wandels im Viertel waren die Zahlen der Gottesdienstbesucher massiv zurückgegangen. Auch kirchliche Veranstaltungen gab es neben den vierzehntäglichen Treffen der Frauenhilfe kaum noch. Angesichts der Schließung von drei katholischen Kirchen im Umfeld kam auch die evangelische Kirche nicht umhin, über die Aufgabe des Gotteshauses nachzudenken, nachdem der Komplex im Jahr 2000 durch Vermietung und Umbauten bereits einmal verkleinert worden war.
Just zu diesem Zeitpunkt wurde im Bochumer Westend, zu dem Stahlhausen gehört, ein aus Mitteln der Europäischen Union geförderter umfassender Stadtumbauprozess in die Wege geleitet. Das war, wie Nollmann sagt, der „Kairos“ – also die Gelelgenheit, auch die Friedenskirche auf Zukunft hin auszurichten. Die Bewerbung war erfolgreich, so dass der Umbau, der am Ende etwa 1,8 Millionen Euro kostete, starten konnte.
Eigentümerin des Gebäudekomplexes ist weiterhin die evangelische Kirchengemeinde Bochum. Aber sie ist nicht deren alleinige Nutzerin. Sie hat sich zusammengeschlossen mit der „Ifak“, einem gemeinnützigen Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe und Migrationsarbeit. Gegründet wurde der 1974 von Lehrern und Schülern eines Bochumer Gymnasiums. Hintergrund war der verstärkt einsetzende Familiennachzug von Angehörigen ausländischer Arbeitnehmer nach Bochum.

Gleichzeitig Kirche und Stadtteilzentrum

Beide Partner – Kirche und Verein – arbeiten nach Nollmanns Worten sehr gut zusammen. „Dabei ist das Ganze Kirche und Stadtteilzentrum in einem.“ Was für andere wie ein schwer zu vollbringender Spagat klingen mag, ist für Nollmann, der in seiner Zeit als Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in Istanbul reichlich Erfahrung sammeln konnte in der Begegnung mit einer anderen Kultur und Religion, gerade das Tolle an seinem Amt in Bochum: Dass das Haus offen ist für alle, dass  dort nicht die Frage gestellt wird, wer Christ ist oder wer Moslem, sondern dass im Q1 der Mensch im Vordergrund steht.
Für Nollmann ist die Arbeit im Q1 eine „zeitnahe Form der Verkündigung“, die freilich nur deshalb möglich sei, weil die Bochumer Innenstadtgemeinde, zu der Q1 gehört, noch über andere Predigtstätten verfügt, in denen das ganz klassische Gemeindeleben abläuft. Und der Pfarrer räumt ein, dass in dem neuen Stadtteilzentrum manchmal auch Zumutungen ausgehalten werden müssten – von allen, die sich dort aufhalten. Zum Beispiel, wenn Muslime, die zur Erstberatung für Migranten kommen, erst durch die Kirche gehen müssten. Andersherum muss etwa die Frauenhilfe damit leben, dass sich auch Menschen anderer Herkunft und anderer Sprache in dem Gebäude bewegen.
Aber solche Zumutungen sind für Nollmann zugleich auch positive Herausforderungen: Die Menschen lernen miteinander und voneinander. Vor allem: dass sie sich nicht mit Angst begegnen müssen. Und Begegnung gibt es viel im Q1. Hätten früher etwa 100 Leute im Monat die Friedenskirche betreten, kämen jetzt etwa 100 am Tag.
Dazu trägt auch die Bildhauerin Dorothee Schäfer bei, die als „Artist in Residence“ ihr Atelier im Q1 bezogen hat und dort zu Kunstkursen einlädt.
Auf Begegnung ist auch die Architektur des Hauses angelegt. Für die zeichnen die „SOAN“-Architekten Gido Hülsmann und Dirk Boländer verantwortlich. Das Bochumer Architektenteam arbeitet seit 20 Jahren zusammen und hat seit nunmehr 16 Jahren viele Kirchen in Westfalen und weit darüber hinaus umgebaut und neuen Erfordernissen angepasst. Für die Umwandlung der Friedenskirche zum Stadtteilzentrum konnte es Ende April in Stuttgart einen von zwei ersten Preisen beim bundesweiten Wettbewerb der Wüstenrot-Stiftung zum Thema „Kirchengebäude und ihre Zukunft“ entgegennehmen (siehe Kasten unten links). Insgesamt 291 Einsendungen hatte es gegeben.
Das Konzept des Gebäudes haben Boländer und Hülsmann gemeinsam mit der Gemeinde entwickelt. Ein festes Raumprogramm gab es nicht und die Nutzungsmöglichkeiten sind bewusst flexibel gehalten. Klar war jedoch, dass ein Sakralraum notwendig war. Er ist jetzt das „Herz der Anlage“ und entstand durch die Abtrennung des Altarbereichs vom ehemaligen Kirchenraum, der jetzt für größere Veranstaltungen genutzt wird.

Architektur schafft neue Form der Begegnung

Der Stil des „Raumes der Stille“ entspricht ganz der Gestaltungslinie, für die die SOAN-Architekten bekannt sind. Schlichte Architektur, klare Formen, Licht. Der einzige Schmuck: das Kreuz im Glasfenster an der Stirnseite und die Kerzen auf dem Altartisch im Zentrum.  Hier ist der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen, sagt Gido Hülsmann.
Aber wenn hier einmal im Monat  Gottesdienste stattfinden und sich der Raum mit Leben füllt, gibt es, so Holger Nollmann, auch ganz neue Gemeinschaftserlebnisse – nicht zuletzt deshalb, weil sich die Gottesdienstbesucher gegenübersitzen.
Und obwohl der Raum der Stille für jeden Besucher des Hauses offensteht – ist er eben doch noch Kirche. Darauf legt der Pfarrer Wert. Jetzt – nach einem Jahr in dem neuen Gebäude – möchte er zusammen mit der Gemeinde daran arbeiten, das evangelische Profil des Hauses weiterzuentwickeln. Auch dafür hofft er, dass die Stadt Bochum noch eine halbe Stelle für Verwaltung und Organisation der vielen Veranstaltungen im Q1 finanziert. Damit er selbst sich wieder mehr seinen eigentlichen Aufgaben zuwenden kann.