„Pflücken erlaubt“ statt „betreten verboten“, lautet die Devise in Andernach. Denn die kleine Stadt am Rhein baut auf öffentlichen Grünflächen Obst und Gemüse an, das jeder ernten kann. An der historischen Stadtmauer wachsen Wirsing, Zucchini und Blattsalate. Die Beete sind Teil eines Projektes, mit dem die kleine Stadt am Rhein seit nunmehr sechs Jahren bundesweit für Aufsehen sorgt: Andernach ist eine „Essbare Stadt“.
Viele Menschen haben schließlich keinen eigenen Garten mehr – oder keine Zeit dafür. Oder sie kennen sich kaum noch aus.
Menschen entdecken Gemüse- und Obstsorten
„Kinder sagen plötzlich: Ach, so sieht also eine Quitte aus. Oder: Ich dachte, Gurken wachsen auf Bäumen, dabei wachsen sie da unten“, sagt Mitorganisator Lutz Kosack.
Auch Erika Kändler erntet regelmäßig, was die Stadt hergibt. Mit einem kleinen Korb in der einen und einer Gartenschere in der anderen Hand schlendert sie durch die Obst- und Gemüsebeete. Ab und zu bückt sie sich und lässt einige Blätter buntstieligen Mangold in ihren Korb wandern; dazu ein paar Brombeeren, zwei Äpfel und einen kleinen Kohlrabi. Und jede Menge Hagebutten. „Die werde ich entkernen und dann zusammen mit verschiedenen Gewürzen in Essig einlegen“, erzählt die 84-jährige Rentnerin. „Das isst man wie Antipasti.“
Doch Erika Kändler kommt nicht nur zum Ernten. Wie viele Andernacher nutzt sie die grünen Inseln inmitten der Stadt auch als Erholungsort. An den Straßenrändern, wo wegen der Autoabgase kein Gemüse angebaut wird, wachsen jetzt Wildblumen. Bienen, Schmetterlinge und andere Insekten schwirren umher. „Jedes Mal sieht es etwas anders aus, weil immer etwas anderes blüht. Es ist herrlich“, schwärmt sie.
Diese Begegnungen mit der Natur sind dem Stadt-Ökologen Kosack wichtig. Mit den blonden Haaren und dem weißen Freizeithemd sieht er eher nach Hobby-Seemann als nach Verwaltungsangestelltem aus. Er gehört zur „Kreativschmiede“ im Rathaus. „Es geht auch darum, in der Stadtverwaltung neue Wege zu gehen“, erklärt der 51-Jährige. Kosack und seine Mitstreiter haben einen weltweiten Trend aufgegriffen. Immer mehr Menschen entdecken das Gärtnern wieder für sich; „Urban Gardening“ ist angesagt.
Ein Grund, dass der Andernacher Bürgermeister Achim Hütten ein gefragter Mann ist. Er hat seine „Essbare Stadt“ bereits in Talkshows und auf Diskussionspodien in ganz Deutschland vorgestellt. Der SPD-Politiker mit der hohen Stirn und den schwarzen Locken lächelt, wenn er über das Projekt spricht. „Die Pflanzen werden geachtet“, sagt er. „Das ist nicht selbstverständlich, wenn man sieht, wie andere Städte mit Zerstörung zu kämpfen haben.“
Zu Beginn habe er nicht mit einem solchen Erfolg gerechnet, räumt Hütten ein. Er zitiert aus dem Johannesevangelium: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ Dieses Wort müsse sich die Politik zum Vorbild nehmen – und immer wieder ergründen, was die Menschen brauchten, betont der Christ.
Auch Lutz Kosack betrachtet die „Essbare Stadt“ durchaus als spirituelles Projekt. „Spiritualität ist nicht das, womit wir werben. Aber ohne Verbindung zur Spiritualität wäre das alles nicht möglich“, sagt er. Es gehe schließlich um Erdung, um Zeit statt Geld, um Heimat. „Mit diesem Begriff haben viele Menschen in Deutschland immer noch Probleme“, weiß der Ökologe. Durch das offene Konzept habe in Andernach auch eine neue Diskussion begonnen: Wem gehört die Stadt? Eine Zukunftsfrage. Und die Antwort, die der rheinland-pfälzische Ort gefunden hat, macht Schule. Fast 400 andere deutsche Städte haben sich laut Kosack bereits nach dem Modell erkundigt, einige haben es abgewandelt und an ihre Umgebung angepasst. Etwa in München oder Kassel gibt es nun ähnliche Projekte.
Auch das Gelände „Lebenswelten“ im Ortsteil Eich am Stadtrand von Andernach ist längst zu einem Erholungsgebiet geworden. Auf dem 14 Hektar großen Gelände hat die Stadt einen Versuchs- und Lehrgarten nach den Prinzipien der Permakultur angelegt. Nachhaltige Kreislaufsysteme sind das Ziel. Vertrocknete Pflanzenteile werden nicht weggeschnitten, sondern dienen im Winter als Futter für Vögel. Auf chemische Dünger und Pestizide verzichtet man.
Langzeitarbeitslose finden dort eine Beschäftigung
Neben einer Streuobstwiese gibt es Insektenhotels, einen Kräutergarten und Freigehege für seltene Nutztierrassen wie Eifeler Fuchsschafe. Das Herzstück der 14 Hektar großen Fläche sind die Obst- und Gemüsebeete. „Für Kinder ist das toll“, meint Erika Kändler. „Die meisten kennen Erbsen nur aus der Dose. Hier können sie selbst Erbsen säen.“ Anders als in der Stadt gilt auf dem „Lebenswelten“-Gelände keine Selbstbedienung. Wer die Lebensmittel probieren möchte, kann sie zu günstigen Preisen in einem Geschäft in der Stadt kaufen. Gepflegt wird das Gelände von Langzeitarbeitslosen, die im ökologischen Gartenbau eine neue Beschäftigung finden.
Viele Menschen hätten Freude daran, etwas selbstbestimmt zu gestalten. „Die Welt wird immer schneller und komplexer; wir verstehen die Funktionsweise vieler technischer Geräte nicht mehr, Themen wie die Griechenland-Krise erst recht nicht“, meint Kosack. „Wenn ich eine Pflanze sehe, wässere, entkraute, ernte, dann trete ich wieder in eine Welt ein, die ich verstehe.“
Dieser natürliche Rhythmus gefalle vielen Menschen. Auch prinzipiell halte er kleine Einheiten, in denen der Einzelne sich einbringen kann, für stabiler als etwa große Lebensmittelfarmen, sagt Kosack. Das wirke wiederum auf die Politik zurück: „Wenn die Menschen sehen, wie vor Ort etwas gestaltet wird, nimmt die Verdrossenheit ab.“
Stichwort Urban Gardening
Urban Gardening gibt es, seitdem es Städte gibt. Als noch nicht alle Lebensmittel auf dem Transport frisch gehalten werden konnten, wiesen die Orte auf lokale Anbaustätten hin. In Mangelzeiten spielte die örtliche Ernte eine entscheidende Rolle: Etwa während des Zweiten Weltkriegs hielten die USA, Kanada, Großbritannien und Deutschland die Stadtbevölkerung dazu an, alle verfügbaren Flächen für den Lebensmittelanbau zu nutzen. Der heutige Boom hängt eher mit dem veränderten Konsumverhalten vieler Menschen zusammen. Seit 2003 gibt es in Berlin eine Professur für Urbanen Gartenbau, in Bamberg besteht ein vom Bund gefördertes Modellprojekt. In den USA und vielen asiatischen Ländern dient Urban Gardening in erster Linie dem Ertrag, der günstigen Ernte. In Zeiten, in denen China die 130-Millionen-Megacity Jing-Jin-Ji plant, ist der nachhaltige Umgang mit der Umwelt gefragter denn je.KNA