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Eine Heldenreise, Glücksschuhe und ein guter Geist

Was haben ein Schustergeselle aus Stuttgart, eine Wasserfrau im Blautopf, ein Doktor und sein Diener miteinander zu tun? Dem Pfarrer und Dichter Eduard Mörike (1804-1875) gelang es in dem Kunstmärchen „Das Stuttgarter Hutzelmännlein“ von 1853, verschiedene Erzählstränge zu einer spannenden Geschichte zu verweben. Am 4. Juni jährt sich Mörikes Todestag zum 150. Mal, das „Hutzelmännlein“ ist eines seiner bekanntesten Werke.

In der Reihe „das schöne Buch“ hat der 8grad Verlag in Freiburg das Märchen 2023 neu aufgelegt. Die Buchreihe zeichnet sich durch eine spezielle Bindetechnik mit Faltblättern aus. Farbige Buntstiftzeichnungen von Illustrator Felix Müller sind modern gehalten und schaffen einen eigenen Zugang zur Geschichte. „170 Jahre nach dem Erstdruck haben wir den Text einer späteren Ausgabe durchgesehen und neu ediert“, erläutert Lektorin Marion Voigt aus Zirndorf bei Nürnberg.

Darin macht der Stuttgarter Schustergeselle Seppe eine klassische Heldenreise, er verlässt die Heimat, muss zahlreiche Prüfungen bestehen, bei denen er betrogen, bestohlen und verführt wird, bekommt aber verschiedene Zaubermittel, die ihm helfen. Dazu gehören Glücksschuhe, die Wegzehrung, die niemals ausgeht, und zuletzt ein Bleilot, das eine wichtige Rolle spielt. Am Ende findet er seinen Weg und die „Moral“ von der Geschichte lautet: Bleib dir treu und du kannst alles erreichen.

Die Heldenreise geht am Ende gut aus, weil Seppe das Versprechen einlöst, das er dem Hutzelmännlein gegeben hat, nämlich ihm das magische Bleilot mitzubringen. „Dieses Erzählmuster ist auch heute noch ungeheuer erfolgreich und wird in Creative-Writing-Kursen gelehrt. Einfach, weil solche Geschichten spannend sind“, sagt Lektorin Voigt.

Das Hutzelmännlein, ein Kobold aus uralter Zeit, steht dem Seppe als guter Geist zur Seite. In dem „guten Geist“ und dem „Heilversprechen“ ließen sich theologische Aspekte erkennen, sagt Voigt. Mörike, der mit seinem Dasein als Pfarrer haderte, war beim Schreiben des Kunstmärchens bereits pensioniert. Das Hutzelmännlein als „treuer Begleiter“ könnte Ausdruck seiner Gläubigkeit sein.

Die Lektorin ergänzte für die Neuausgabe die originalen Anmerkungen des Autors durch zusätzliche Erläuterungen dort, wo Sprache oder Begriffe des 19. Jahrhunderts heute schwer verständlich sind. Dialektwörter und Regionalismen wie „Döte“ (Taufpate) und „Zaine“ (Korb) wurden übersetzt, die Rechtschreibung wurde der heutigen angepasst.

Das Märchen enthält mehrere Erzählstränge: Einmal die Geschichte des Schustergesellen Seppe, dann gibt es die „Historie von der schönen Lau“, der traurigen Wasserfrau, die im Blautopf – einer blauschimmernden Karstquelle in Blaubeuren – sitzt und sich Kinder wünscht. Außerdem den Doktor Veylland mit dem Bleilot und seinen Diener, der das zauberkräftige Lot zum Blautopf bringt, und schließlich die weibliche Protagonistin Vrone Kiderlen mit ihrer eigenen Geschichte.

Mörike wird zur „Schwäbischen Schule“ gezählt, zu deren Hauptvertretern auch Ludwig Uhland, Wilhelm Hauff und Justinus Kerner gehören – ein lockerer Zusammenschluss von Dichtern in Tübingen und Umgebung. Sie waren geprägt von der Romantik. Gedichte, Märchen oder Romane spiegelten oftmals die Sehnsucht nach Rückzug, Vergangenheit und Ideal, Liebe zur Natur und Verbundenheit mit der Heimat wider. „Das Stuttgarter Hutzelmännlein“ entspricht in seiner Essenz diesem Hang zu einem Rückzugsort, gespeist aus einer unsicheren Zeit nach der gescheiterten Märzrevolution 1848/49.

Sie könne sich durchaus vorstellen, dass viele Menschen sich danach sehnten, „so einen guten Geist an der Seite zu haben“, sagte Voigt. Geschichten wie die vom Hutzelmännlein böten einen Rückzugsort, an dem man sich innerlich wieder neu aufstellen konnte – um zu schauen, worauf es ankomme im Leben. „Ich denke, das verbindet diese Zeit mit unserer. Und das macht das Märchen zeitlos, der Wunsch nach einem Refugium, nach Trost in äußerer Bedrängnis“, sagte sie.

Es habe auch Vorwürfe gegeben, diese Art von Literatur sei provinziell und bieder, etwa von Heinrich Heine (1797-1856). „Sie hat natürlich auch etwas Eskapistisches. Jemand hat Mörike gar als ‘Dichter im Schlafrock’ bezeichnet“, sagt die Lektorin. Aber der Text sei aus heutiger Sicht „einfach auch richtig gut geschrieben und zugleich tiefsinnig und witzig“.