Im Zentrum der reformatorischen Theologie, der Rechtfertigungslehre, fehlt etwas. Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und in der Odenwald-Schule haben es in Deutschland ans Licht gebracht: Bis heute wissen wir in Kirche und Öffentlichkeit, wie wir mit den Tätern umgehen sollen, aber vor dem Elend der Opfer sind wir ratlos. Bei den Tätern fragen wir, wie sie zu ihren abscheulichen Taten kamen, bei den Opfern suchen wir nicht nach Wegen, wie sie aus ihrer Scham und Schande herauskommen. In Kirche und Öffentlichkeit sind wir täterorientiert und opfervergessen.
Die reformatorische Rechtfertigungslehre ist aus dem mittelalterlichen Bußsakrament hervorgegangen. Die Macht des Bösen wird „Sünde“ genannt. Wir sprechen von der „Vergebung der Sünden allein durch die Gnade Gottes im Glauben“. Das ist auch richtig und wichtig, aber es ist nur die halbe Wahrheit, denn der Sünder ist der Täter des Bösen, und wo bleiben die Opfer seiner Sünden? Wir beten: „Vergib uns unsere Schuld“, und wo bleiben die Opfer, an denen wir schuldig geworden sind? Das Bußsakrament ist einseitig täterorientiert. Die Rechtfertigungslehre, das Herzstück reformatorischer Theologie, ist opfervergessen. Hier klafft eine Lücke in der christlichen Gnadenlehre.
Vergebung der Sünden – nur die halbe Wahrheit
Das ist schon in der Sündenlehre des Apostels Paulus zu sehen. Im siebten Kapitel des Römerbriefs schreibt er ehrlich und selbstkritisch: „Das Gute, das ich soll, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.“ (Römerbrief 7,19.20)
Warum sieht er nicht auf die, denen er Böses angetan und Gutes versäumt hat? Warum ist er nur mit sich selbst beschäftigt? Vergleichen wir seine Sündenlehre mit dem Jesus der synoptischen Evangelien, dann fällt auf, dass Jesus nicht die Täter der Sünde, sondern ihre Opfer im Blick hat: „Es jammerte ihn des armen Volkes“ (Mt 9,36). Er blickt auf die Opfer von Unrecht und Gewalttat. Ihnen bringt er die Botschaft vom Reich Gottes und heilt sie und nimmt sie in seiner Gottesgemeinschaft auf.
In den Psalmen des Alten Testamentes finden wir Gottes Gerechtigkeit nicht nur in der Vergebung der Sünden: „Rette mich durch Deine Gerechtigkeit“ (Ps 51), sondern auch auf der Seite der Armen und Schwachen, der Opfer der Sünden: „Er schafft Recht denen, die Gewalt leiden.“ Psalm 103,6; 146,7–9; 82,3.4
Gottes Gerechtigkeit ist keine nur gut und böse feststellende Gerechtigkeit. Sie ist auch keine Gutes mit Gutem und Böses mit Bösem vergeltende Gerechtigkeit. Sie ist schöpferische Gerechtigkeit. Sie ist für die Opfer der Sünde eine Recht-schaffende Gerechtigkeit. Sie ist für die Täter der Sünde eine zu-Recht-bringende Gerechtigkeit.
Wir wollen das im Blick auf die Täter und die Opfer genauer untersuchen. Für die Täter gibt es das alte, bewährte Bußritual, für die Opfer müssen wir ein entsprechendes Ritual für ihre Rechtfertigung erst noch suchen. Die Täter des Bösen werden zu-Recht-gebracht durch die Vergebung ihrer Sünden zur Buße. Dazu gehören drei Schritte:
Das Bekenntnis des Bösen, das sie angerichtet haben: confessio oris. Der erste Schritt ist der Schritt aus dem Dunkel des Verdrängens und Verschweigens ins Licht der Wahrheit. Das ist nicht leicht, weil das Schuldbekenntnis immer mit Selbsterniedrigung verbunden ist. Wie die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission (truth and reconciliation commission) gezeigt hat, ist es für Täter extremen Unrechts, für Folterer und Mörder, nahezu unmöglich. Sie brauchen einen beschützenden Raum. Das kann der Beichtstuhl und das Beichtgeheimnis des Pfarrers oder der Pfarrerin sein, aber es muss auf jeden Fall ein sozialer Raum sein, in dem Hoffnung auf Vergebung schon präsent ist. Im Vertrauen auf das Erbarmen Gottes kann der Sünder seine Schuld bekennen, ohne sich selbst zu zerstören. Das ist gute evangelische Einsicht: Wir erkennen unsere Sünde am Gesetz Gottes und bekennen sie im Licht des Evangeliums. Weil die Täter des Bösen und Unterlasser des Guten immer ein kurzes Gedächtnis, wenn überhaupt eines, haben, sind sie auf das Gedächtnis ihrer Opfer angewiesen. Sie müssen sich selbst mit den Augen ihrer Opfer ansehen, um zur wahren Selbsterkenntnis zu kommen. Das haben uns die „After Auschwitz“-Konferenzen gezeigt.
Der zweite Schritt ist der Sinneswandel, contritio cordis, die Reue: Abkehr von den Wegen, die zur bösen Tat oder Unterlassen des Guten führten und Umkehr zum Leben und zum Guten. Das war persönlich gemeint. Das Persönliche ist auch heute wichtig: Nur veränderte Menschen können schlimme Verhältnisse zum Besseren verändern. Heute kommt der Bruch mit politischen und sozialen Unrechtssystemen dazu, die viel Gewalt und Unrecht produzieren. Das sind die Diktaturen und politischen Terrorsysteme, das sind aber auch soziale Systeme, die Armut produzieren, und industrielle Systeme, die die Erde ruinieren.
Zuletzt kommen die Täter nur in eine neue Gemeinschaft mit den Opfern, wenn sie alles tun, um den Schaden, den sie angerichtet haben, zu beseitigen. Das nennt man „Wiedergutmachung“, satisfactio operum, obwohl wir wissen, dass dadurch nichts Böses ungeschehen oder „wieder gut“ gemacht werden kann. Aber jede „Wiedergutmachung“ ist ein Anfang einer neuen Gemeinschaft zwischen Tätern und Opfern, wie beispielsweise zwischen der Bundesrepublik und Israel 1948. Strafrechtlich nennt man das den „Täter-Opfer-Ausgleich“.
Wie kann die Rechtfertigung der Opfer aussehen? Ein Vorschlag:
Der erste Schritt gleicht dem Bußsakrament: confessio oris: der Schritt ins Licht der Wahrheit. Die Opfer von Unrecht und Gewalt müssen nicht nur aus ihrem Leiden herauskommen, sondern noch mehr aus ihrer seelischen Erniedrigung. Diese verschließt ihren Mund. Bei sexueller Gewalt kommt Scham über die Schändung, die sie erlitten haben, hinzu. Sie brauchen einen Freiraum der Anerkennung ihres Leidens, damit sie ihre Schmerzen herausschreien können. Sie brauchen Ohren, denen sie ihre Geschichte erzählen können, damit sie ihre Selbstachtung wiedergewinnen. Das Schuldbekenntnis der Täter kann ihnen dazu helfen. Sie müssen aber nicht darauf warten, denn sie müssen auch von der Fixierung auf die Täter frei werden, sie müssen nicht ewig „Opfer“ sein. In dem Gott, „der Recht schafft denen, die Gewalt leiden“, finden sie ihre Personwürde wieder. Sie brauchen auch einen schützenden Raum einer Gemeinschaft, in dem sie sich anerkannt fühlen: Durchbrich die Fesseln deiner Scham! Was du erlitten hast, hat deine Seele nicht berührt! Das Mitteilen an teilnehmende Menschen ist der erste Schritt in die Wahrheit. Nur die Wahrheit kann die Opfer frei machen. Bei den Opfern sexuellen Missbrauchs hat das beklemmende Schweigen oft dreißig Jahre gedauert, bis die ersten Worte über die Lippen kamen und man auf sie gehört hat.
Auch Opfer brauchen Umkehr
Der zweite Schritt ist die Aufrichtung der Opfer aus der Erniedrigung und das zu Gott erhobene Haupt. Auch die Opfer brauchen Umkehr. Es ist die Umkehr vom Selbstmitleid und Selbsthass in die Weite einer liebenden Lebensbejahung. Das ist die Voraussetzung für den dritten Schritt.
Schließlich: Nicht Vergeltung, sondern Vergebung macht frei. Jeder, der Unrecht erleidet oder gekränkt wird, bekommt Racheträume. Das ist ganz natürlich. Aber wenn Böses mit Bösem beantwortet wird, ist keine Gerechtigkeit gewonnen, sondern nur das Böse verdoppelt worden. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden“, sagt Paulus mit Recht (Röm 12,24). Auch nicht vom Bösen, mit dem Böses vergolten wird. Wer den Mörder ermordet, ist auch ein Mörder.
„Überwinde das Böse mit Gutem“, fährt Paulus fort zu sagen. Wenn wir unseren Schuldigern vergeben, tun wir nicht nur ihnen, sondern auch uns selbst etwas Gutes: Wir überwinden das Böse, das in uns eingedrungen ist. Vergebung ist auch ein Akt der Selbstheilung der Opfer.