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Ein Lied zwischen Golgatha und Paradies

„Holz auf Jesu Schultern“ schlägt die Brücke vom Tod zum Leben, vom Zweifel zum Glauben

Gina Sanders - Fotolia

Jürgen Henkys, emeritierter Theologieprofessor in Berlin, hat viele anrührende Lieder ins Deutsche übersetzt. Eines davon heißt „Holz auf Jesu Schulter“ (EG 97). Es ist die Übersetzung des niederländischen „Met de boom des levens“ von Willem Barnards. Ein Lied zwischen Leben und Tod, Güte und Gericht, Tag und Nacht. Ein Lied für die Zeiten im Leben, in denen es hart auf hart geht. Die Musik stammt von Ignace de Sutter, einem belgischen Musiker und Theologen. Er nimmt den Kyrie-Ruf einer gregorianischen Messe auf. Die Musik verbindet das Mittelalter mit der Gegenwart.
„Holz auf Jesu Schultern, von der Welt verflucht, ward zum Baum des Lebens und bringt gute Frucht“: Gleich in der ersten Strophe schlägt Henkys den Bogen vom Hügel Golgatha zum Paradies. In der Mitte des Gartens Eden wachsen der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis. Die ersten Menschen hatten dem Verbot Gottes zum Trotz vom Baum der Erkenntnis gegessen. Sie mussten das Paradies verlassen. Gott befürchtete, dass sie sich auch an den Früchten vom Baum des Lebens vergreifen. Vom Paradies nach Golgatha: Christus verspricht einem Übeltäter, der mit ihm gekreuzigt, wird: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lukas 23,43) Christus am Kreuz schließt den Paradiesgarten wieder auf. Ein ungeheuerliches Bild: Das verfluchte Holz des Kreuzes wird zum Baum des Lebens. Und der trägt Früchte. „Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehen. Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.“ Überlass uns nicht dem Tod, versprich auch uns das Paradies!
Nach der steilen Vorlage geht es in einem Auf und Ab weiter. Wie das Auf und Ab des Lebens: Die Spannung zwischen Glauben und Zweifeln. Die Lebensfahrt, auf der man manchmal Gott loben und danken kann, und dann wieder spürt, dass man in einer Spirale des Todes wie gefangen ist und schuldig wird: An der Schöpfung, an anderen Menschen, am eigenen Leib. Unmöglich, sich selbst aus dem düsteren Gefährt der Gedanken zu reißen. Wenn alles hoffnungslos schwarz erscheint, braucht es das Eingreifen des Himmels selbst. „Denn die Erde klagt uns an bei Tag und Nacht. Doch der Himmel sagt uns: Alles ist vollbracht!“ Die Gewissheit des Gekreuzigten. Alles ist vollbracht. Von ihm. Für uns.
Es gibt Zeiten im Leben, da kommt der Tod ganz nah. Wenn liebe Menschen schwer krank werden. Wenn sie sterben. Wenn ich erschüttert bin von dem Leid, das Menschen einander zufügen. Manchmal erzählen mir Menschen von Kränkungen und Verletzungen, die sie erfahren haben. Ich kann nur ahnen, wie sie darunter leiden. Manchmal habe ich Angst, dass ich selbst krank werde, dass ich mich verirre im Leben. Manchmal habe ich Angst vor dem Tod.
Ich weiß  nicht, wie aus dem Todesholz der Baum des Lebens werden kann. Aber das Lied von Jürgen Henkys erinnert, woran ich mich halten kann: „Holz auf Jesu Schulter, von der Welt verflucht, ward zum Baum des Lebens und bringt gute Frucht.“ Die Früchte dieses Baums reifen auch für mich. Auch für mich ist das Paradies aufgeschlossen. Sieh, wohin ich gehe, Gott. Ruf mich aus den Toten. Lass mich auferstehn.