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Ein ganz anderes Leben

Seit neun Monaten sind Marcus Tyburski und seine Frau Bettina als Pfarrer in Tokyo. In ihrer deutschsprachigen evangelischen Gemeinde hatten sie kürzlich Besuch eines deutsch-japanischen Paares, das vor 46 Jahren in der Kreuzkirche getraut wurde

Die Umstellung ist schon groß: Die Sprache, die Kultur, die Tagesabläufe, der Alltag – alles ist neu. Tokyo, Japan. Seit August 2018 sind meine Frau Bettina Roth-Tyburski, unser Sohn Lasse und ich in Tokyo. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat uns als Pfarrersehepaar in die deutschsprachige evangelische Gemeinde in Tokyo gesendet. Seit der Gründung der Gemeinde im Jahr 1885 schickt die EKD dort Pfarrer hin.
Der Gottesdienst hat in der Gemeinde eine große Bedeutung. Immer wieder kommen auch Reisende und machmal auch Ehemalige. Vor Kurzem hatten wir an einem Sonntag ein schönes Erlebnis:
Ein Paar war früh da an diesem Morgen. Noch bevor die ersten Besucher den kleinen Hügel hinauf zur Kreuzkirche in Tokyo kamen, schauten sie sich voller Erinnerungen um. Die Kirche hat seit ihrer Fertigstellung 1959 ihr Äußeres nicht verändert, auch wenn um sie herum die Gebäude erneuert und in die Höhe gewachsen sind. Wie in einer kleinen Oase, umgeben von Bambus und anderen grünen Gewächsen, steht die Kirche neben dem 2011 neu gebauten Pfarr- und Gemeindehaus. In diesem Jahr feiert sie ihr 60-jähriges Bestehen. Wer zur Kirche kommt, geht unter dem Eingangstor durch. Wie in Japan üblich, werden so Innen- und Außenbereich voneinander getrennt.
Sie setzten sich in den Innenhof und genossen die wärmenden Strahlen der Sonne. Es waren Setsuko und Peter Hüstebeck. Das Ehepaar wurde vor 46 Jahren hier kirchlich getraut. Beide erinnern sich noch genau, wie es damals war. „Der damalige Pfarrer Böhnke hat die Trauung durchgeführt. Aber es waren ja fast ausschließlich japanische Gäste anwesend. Daher benötigten wir japanische Unterstützung. So war Pfarrer Imoto mit dabei und der Gottesdienst konnte für alle sprachlich verständlich gefeiert werden“, erzählte das Ehepaar.
Wir freuen uns, dass das Ehepaar Hüstebeck den Gottesdienst besuchte. In den letzten Jahren kommen zunehmend mehr Reisende aus Deutschland nach Japan. Viele finden auch den Weg in unsere kleine deutsche Kirche. Im Anschluss an den Gottesdienst ergibt sich dann beim Kirchenkaffee die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Das Ehepaar Hüstebeck gab uns einen kleinen Einblick in ihre Lebensgeschichte. Die beiden haben sich in Japan kennengelernt. Dabei hatte Setsuko Hüstebeck als gebürtige Japanerin vorher schon einige Jahre in Deutschland gelebt und dort eine Ausbildung gemacht. „Mein Bruder war in den 60er Jahren an Epilepsie erkrankt. Ich hatte in einer japanischen Zeitung einen Bericht über die von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel in Bielefeld gelesen. Dort wurden Menschen, die ähnliche Erkrankungen hatten wie mein Bruder, aufgenommen, versorgt und begleitet. Das wollte ich lernen!“ So beschrieb sie ihre Beweggründe, nach Deutschland zu gehen. Nach ihrer Ausbildung kehrte sie nach Japan zurück.
Setsuko lernte ihren späteren Mann kennen, der als Weltenbummler unterwegs war. „Mir gefiel Japan gut“, erzählte Peter Hüstebeck. Die beiden heirateten und ließen sich kirchlich trauen. „Wir waren damals Gemeindeglieder der Kreuzkirche“, berichten sie.
Anders als in Deutschland üblich gehört die deutschsprachige Gemeinde in Tokyo zu den Freiwilligkeitsgemeinden. Freiwillig heißt, dass jeder, der dazugehören möchte, sich aktiv der Gemeinde anschließen muss. Eine Zusammenarbeit mit den örtlichen Verwaltungsbehörden wie Einwohnermeldeamt gibt es nicht. Die Gemeinde in Tokyo finanziert sich selbstständig durch Beiträge und Spenden. Der große Adventsbasar im Dezember ist eine weitere wichtige Stütze. Neben dem Unterhalt der Gebäude müssen die Kosten für den Pfarrdienst aufgebracht werden. Im Gemeindeleben allerdings ist manches wiederum recht ähnlich.
„Unsere Tochter wurde dann auch 1975 in der Kreuzkirche getauft“, so Hüstebecks weiter. „Und wir wären damals gern in Japan geblieben – aber die Behörden haben es nicht zugelassen. Ich bekam trotz meiner Ehe keine Aufenthaltsgenehmigung“, sagte Peter Hüstebeck. Die Enttäuschung ist noch immer bei ihm zu spüren. Inzwischen ist der Aufenthalt in Japan für Ehepaare kein Problem mehr. Längst sind die Gesetze geändert.
Setsuko und Peter Hüstebeck entschieden sich damals für ein Leben in Deutschland. Beide fanden in den Einrichtungen in Bethel ihre Arbeit und blieben so der evangelischen Kirche verbunden. Noch heute wohnen sie in Bielefeld. Setsuko Hüstebeck betreut ehrenamtlich mehrmals in der Woche eine alte Diakonisse.
Unsere deutschsprachige Gemeinde steht in Japan lebenden Deutschen und auch Reisenden gerne helfend zur Seite. Im letzten Herbst haben wir die Ehefrau eines Mannes betreut, der auf einer Reise in Japan einen Herzinfarkt erlitten hat. In enger Zusammenarbeit mit der deutschen Botschaft konnten wir so lange seelsorglich Hilfestellung geben, bis eine Rückreise nach Deutschland möglich war.
Bettina und ich waren fast 14 Jahre lang im westfälischen Gronau-Epe als Pfarrehepaar tätig, bevor wir den Schritt nach Japan wagten. Obwohl wir fast neun Monate hier sind, leben wir uns noch immer ein. Vieles ist mittlerweile aber vertraut geworden – auch das Autofahren und der Linksverkehr. Meine Frau unterrichtet neben dem Dienst in der Gemeinde an der deutschen Schule Tokyo-Yokohama evangelische Religion. Die Schule liegt rund 20 Kilometer von Shinagawa, wo die Kirche steht und unsere Wohnung ist, entfernt.
Lasse, unser Sohn, muss jeden Morgen früh raus. Mit japanischer Pünktlichkeit und ohne Verspätung startet der Schulbus. Die Entfernungen und Wege in Tokyo sind nicht zu unterschätzen. Viele Gemeindeglieder benötigen weit mehr als eine Stunde Fahrzeit, um zum Gottesdienst oder zu einer Veranstaltung zu kommen. Umso mehr freut es uns, wenn die Gemeinde am Sonntagmorgen zahlreich zum Gottesdienst zusammenkommt. Der Gottesdienst ist wirklich das Zentrum der Gemeinde.
Kein Wunder, dass jeder die gemeinsame Zeit genießt und nicht sofort wieder geht. Fast als letzte an jenem Morgen verließ das Ehepaar Hüstebeck das Gelände der Kreuzkirche. Mitten in Tokyo haben sie in der Kirche, wie so viele Deutsche, ein Stück Heimat gefunden. Mit weiteren und neuen Erinnerungen liefen sie den kleinen Hügel hinab zur Straße. Vielleicht kommen sie bald wieder zu einem neuen Besuch in eine ihnen so vertraute Umgebung.