Artikel teilen:

Doppelte kritische Solidarität

Pessimismus beim Thementag Israel-Palästina: Nahostexperte sieht keine Chance mehr für eine Zwei-Staaten-Lösung. Präses Kurschus will weitere Verhärtung der Fronten verhindern

DORTMUND – Für eine Zwei-Staaten-Lösung gibt es im Nahostkonflikt nach den Worten des langjährigen Israel-Korrespondenten der ARD, Richard C. Schneider, keine Chance mehr. Auf beiden Seiten mangele es an Bereitschaft, dieses Ziel umzusetzen, sagte der Journalist beim Westfälischen Thementag Israel-Palästina der Evangelischen Kirche von Westfalen in Dortmund. Die Lage im Gazastreifen bezeichnete er als eine „humanitäre Katastrophe“. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe es versäumt, eine Perspektive zu entwickeln.
Innenpolitisch erlebe Israel ähnlich wie Europa und die Vereinigten Staaten ein Erstarken extremistischer Strömungen. Die rechten politischen Kräfte im Land versuchten die Gesellschaft zu unterminieren, sagte Schneider, der in Tel Aviv lebt. Wenn sich heute Populismus und religiöser Fanatismus Bahn brechen könnten, sei das auch eine Reaktion auf die Selbstmordattentate radikaler Palästinenser, betonte der Nahostexperte. Der Kampf der Fatah-Bewegung und der Hamas stoße heutzutage allerdings in der arabischen Welt auf immer weniger Interesse.
Zahlreiche Staaten des Nahen und Mittleren Ostens haben nach Worten des Buch- und Fernsehautors inzwischen Israel als Partner in Rüstungsfragen an ihrer Seite. Große Gefahr gehe im Nahen Osten vom Iran aus, der unter anderem die Hamas wie auch die Hisbollah-Milizen mit Waffen versorge, betonte Schneider. Der Journalist warnte vor einem Krieg in der Region, da sowohl die arabische als auch die israelische Seite hochgerüstet seien.
Die Präses der westfälischen Landeskirche, Annette Kurschus, wies auf die besondere Verantwortung für Israel und Palästina hin. Die begründe sich auch durch die „schuldhafte Verstrickung der evangelischen Kirche in die Schoah, die Zerstörung jüdischen Lebens während der Zeit des Nationalsozialismus“. Das Leid der Menschen im Nahen Osten habe in den vergangenen Jahren eher zu- als abgenommen, so Kurschus. „Wir wollen uns der Verhärtung der Fronten entgegenstellen und suchen daher das Gespräch mit Israelis und Palästinensern.“
Zugleich sprach sich die leitende Theologin für eine doppelte sowie kritische Solidarität aus. Sie wies dabei auf Positionen der Evangelischen Mittelost-Kommission hin. Kritische Punkte in der israelischen Politik seien der Siedlungsbau in der Westbank, der Verlauf der Mauer oder die Verhältnismäßigkeit der Reaktionen von israelischer Seite auf palästinensische Provokationen. Bei den Palästinensern gelte es wiederum zu hinterfragen, ob sie sich konsequent gegen Gruppen abgrenzten, die das Existenzrecht Israels ablehnten und wie sie es mit dem Aufbau demokratischer Strukturen hielten.
Für Bischof Sani Ibrahim Azar von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und dem Heiligen Land ist der israelisch-palästinensische Konflikt der „Kernkonflikt im Nahen Osten, der die gesamte Region betrifft“. Was im Nahen Osten geschehe, habe tiefgreifende Auswirkungen an anderer Stelle.
Azar hat eine Vision eines friedlichen Zusammenlebens zwischen Juden, Christen und Muslimen. „Die Realität ist, dass wir hier sind, alle zusammen. Wir alle verdienen gleiche Rechte“, sagte er. Nach seiner Ansicht sind Christen dazu berufen, mit Nachbarn verschiedener Religionen auf Augenhöhe, in gegenseitiger Liebe und Achtung zu leben.
Trotz aller Unterschiede wirbt Azar nachdrücklich für eine Verständigung zwischen Christen und Muslimen. „Es gelingt uns vielleicht nicht, Muslime zu Christen zu machen, aber wir werden sicherlich Christen zu Freunden ihrer muslimischen Nachbarn machen“, zitierte er seine Großtante, eine Diakonin. epd/joh