Die Türkei ist zu ihrer Heimat geworden. Schwester Johanna ist bekannt in ihrem Viertel in Istanbul – und beliebt. Man grüßt sie freundlich und mit Respekt – trotz (oder wegen?!) ihrer Tracht. Das ist es, was sie liebt an diesem Land: die Menschen.
Auch über die Zusammenarbeit zwischen den christlichen Schwestern und den muslimischen Mitarbeiterinnnen und Mitarbeitern kann Schwestern Johanna nur Gutes berichten. Darum lebt und arbeitet die gebürtige Polin mit Freude in dem österreichischen Krankenhaus in Istanbul, dessen Träger ihr Orden ist: die Barmherzigen Schwestern aus Graz. Hier werden Arme, Obdachlose und Flüchtlinge behandelt. Aber auch „ganz normale“ Türkinnen und Türken, ebenso wie deutschsprachige Touristen, die froh sind, wenn sie in ihrer Muttersprache über ihre Beschwerden berichten können.
Also alles gut für die christliche Gemeinschaft in der Türkei? Trotz eines erstarkenden Islam, trotz autoritärer Regierungspolitik und trotz Ausnahmezustandes?
Rein äußerlich betrachtet – vielleicht. Auf weitere Nachfrage aber kommen doch vorsichtige Andeutungen. Zum Beispiel über häufige Kontrollen, über Vorschriften, die im österreichischen Krankenhaus vielleicht ein wenig strenger ausgelegt werden als in türkischen Häusern, über Streit um 20 Zentimeter bei der Größe der Krankenzimmer.
Istanbul: nur noch etwa 2000 griechische Christen
Insgesamt entsteht der Eindruck einer subtilen Art der Diskriminierung. Dazu kommen finanzielle Schwierigkeiten und Nachwuchsprobleme im Orden. Deshalb sind die Schwestern nicht überzeugt, dass ihr Haus, dessen Gründung auf eine Cholera-Epidemie im Jahr 1872 zurückgeht, auch in 50 Jahren noch da sein wird.
Zweifel daran, ob es noch eine Zukunft gibt: Die hat auch Vater Dositheos, Pressesprecher des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel, also der Vertretung der griechisch-orthodoxen Kirche in der Türkei mit Sitz in Istanbul. Allein die Zahlen, die er kürzlich in einem Gespräch mit einer Gruppe von Münsteraner Theologie-Studenten um Professor Hans-Peter Großhans nannte, sprechen eine beredte Sprache: Lebten vor 100 Jahren noch etwa 200 000 orthodoxe Griechen allein in Istanbul, sind es heute nur noch etwa 2000, und zwar vor allem alte Menschen. Aber immerhin: Heute geht Vater Dositheos wieder in seinem geistlichen Gewand auf die Straße. Und zwar ohne Angst. Vor Jahren hätte er das nicht gewagt.
Einen großen Aderlass für die Griechen in der Türkei gab es durch den „Lausanner Friedensvertrag“ von 1923, der nach dem griechisch-türkischen Krieg von 1922 geschlossen wurde. Der Vertrag sah vor, dass aus Anatolien etwa 1,25 Millionen Griechen die Türkei Richtung Griechenland verlassen mussten und eine halbe Million Türken aus Griechenland in die Türkei ausgewiesen wurden. Bleiben konnten 110 000 griechisch-orthodoxe Christen in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, und etwa 106 000 muslimische Türken im griechischen Westthrakien. Der Bestand kirchlicher Einrichtungen auf dem Stand von 1923 wurde garantiert.
Ablösung des Vielvölkerstaates
Trotzdem ging es mit der christlichen Gemeinde weiter bergab. Der westfälische Kirchenrat Gerhard Duncker, der die Reise der Münsteraner Gruppe leitete, führt das auf den Nationalismus des kemalistischen Systems zurück. Der hatte das Vielvölkergebilde des Osmanischen Reiches abgelöst und dazu geführt, dass nach dem Verständnis der meisten Türken ein Türke immer auch ein Moslem ist/sein muss. Die christlichen Minderheiten würden daher in der Regel weniger als Türken christlichen Bekenntnisses, sondern als Angehörige nationaler Minderheiten betrachtet.
Erste große antichristliche Bewegungen hatte es ja bereits Ende des 19. Jahrhunderts und in den Jahren 1915/16 gegen die Armenier gegeben, nach den Griechen die zweitgrößte Gruppe der Christen in der Türkei. Dass es sich um einen Völkermord handelt, wird von türkischer Seite nicht anerkannt, fest steht aber, dass der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung mehrere Hunderttausend Menschen zum Opfer fielen.
Und als sichergestellt dürfte ebenfalls gelten, dass mit der Verfolgung der Armenier die Bestrebungen, aus der Türkei einen homogen-muslimischen Staat zu machen, ihren Ausgang nahmen. Dafür hat sich der türkische Staat in der Vergangenheit verschiedene Maßnahmen ausgedacht: Etwa die Einführung einer Vermögenssteuer im Jahr 1942. Danach mussten, wie Duncker erklärt, 90 Prozent der Steuern von den nicht-muslimischen Minderheiten aufgebracht werden, 87 Prozent der Besteuerten seien Christen und Juden gewesen, obwohl sie damals nur noch zwei Prozent der Bevölkerung ausmachten. Viele christliche Unternehmer seien per Viehwaggongs in die Verbannung nach Anatolien gegangen, um dort zur Abzahlung ihrer Steuerschulden Zwangsarbeit zu leisten. Andere hätten die Türkei verlassen.
Auch von organisierten Ausschreitungen weiß der Türkeikenner Duncker, der neun Jahre lang als Pfarrer der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Istanbul gearbeitet hat: Im September 1955 wurden gezielt griechische Geschäfte geplündert. Und 1971 wurde auf staatliche Anordnung das Priesterseminar geschlossen. Bis heute ist es nicht wieder eröffnet. Das heißt, eine Ausbildung griechisch-orthodoxer Priester in der Türkei ist weiterhin nicht möglich.
Viele kleine Mosaiksteinchen einer mehr oder weniger offenen Diskriminierung, die über die Jahre dazu geführt haben, dass die Zahl der Christen in der Türkei auf 0,21 Prozent geschrumpft ist. Zieht man die Auslandsgemeinden ab, bleiben nur noch etwa 0,15 Prozent. Neben der griechisch-orthodoxen Kirche gibt es die armenisch-apostolische Kirche, mit etwa 70 000 Gläubigen die größte unter den einheimischen Kirchen. Gefolgt wird sie zahlenmäßig von der syrisch-orthodoxen Kirche mit 14 000 Gläubigen. Daneben existieren noch eine Reihe kleiner Kirchen wie die armenisch-katholische, die syrisch-katholische und die chaldäische Kirche sowie evangelikale Gemeinden.
Etwas anders ist die Situation in Istanbul, wo sich etwa 0,5 Prozent der Bevölkerung zu einer der christlichen Konfessionen bekennen. An zahlreichen Orten werden christliche Gottesdienste gefeiert, und Gerhard Duncker freut sich, dass rund um die Haupteinkaufsstraße İstiklal noch immer mehr Kirchen als Moscheen stehen. Auch die Glocken läuten noch. Dass sie an mancher Stelle von den Rufen der Muezzine übertönt werden, damit mussten die Christen zu leben lernen, denn sie sind sich ihres Minderheitenstatus in dem muslimischen Land sehr wohl bewusst. Der aber macht ihnen zunehmend Sorgen, wie aus allen Gesprächen deutlich wird.
Wirkliche Vorwürfe gegen die Regierung mag zwar niemand erheben, dennoch: Das allgemeine Klima der Verunsicherung, wenn nicht der Angst, das sich nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli und während des weiterhin gültigen Ausnahmezustands über das Land gelegt hat, hat auch Einfluss auf die Christen. Wobei einige Beobachter überzeugt sind, dass der Putschversuch kaum etwas geändert hat. Alle Einschränkungen von Freiheit und Demokratie hätten sich schon vorher deutlich angekündigt.
Auch Bartholomeus I., griechisch-orthodoxer Ökumenischer Patriarch von Kontantinopel und gleichzeitig Ehrenoberhaupt aller orthodoxen Christen weltweit, stand bei einigen türkischen Medien im Verdacht, am Putschversuch beteiligt gewesen zu sein. Vater Dositheos ist heilfroh, dass dieser Verdacht aus dem Weg geräumt werden konnte. Aber zugleich weiß er aus der Geschichte, dass es in Krisenzeiten immer wieder die Minderheiten sind, die für Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht werden. Überall auf der Welt.
Von einer Re-Islamisierung der Türkei wollen Beobachter aktuell trotzdem nicht reden. Das Land sei immer muslimisch gewesen. Nur hatte der Islam (ebenso wie alle anderen Religionen) nach der Ausrichtung des Landes Richtung Europa durch den türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk und dessen Einführung eines laizistischen Systems nur begrenzte Entfaltungsmöglichkeiten. Die dem Land und seinen Menschen damals aufgezwungenen Reformen schlügen jetzt, fast 100 Jahre später, zurück, sagt Gerda Willam, Pastoralreferentin in der katholischen österreichischen St. Georgs-Gemeinde in Istanbul.
Gute Zusammenarbeit aller Konfessionen
Mit dieser Situation, einem neuerdings politisch geförderten Islam, müssen die Christen im Land umgehen. Etliche Gemeinden tun dies, wie Willam sagt, durch gute ökumenische Zusammenarbeit, etwa bei der Flüchtlingshilfe, aber auch bei der Gebetswoche für die Einheit der Christen oder beim Weltgebetstag. Vor allem freut sich die Pastoralreferentin über die Beteiligung der orthodoxen Gemeinden: Bei solchen Anlässen hätten auch dort Frauen die Chance, Gottesdienste (mit-)zugestalten – etwas, das ihnen sonst verwehrt sei.
Mitgestalten. Das ist ein Stichwort, das auch in der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Istanbul großgeschrieben wird. Ursula August, seit gut fünf Jahren Pfarrerin der Gemeinde, freut sich über die aktiven Mitglieder, denen sie ein Stück Heimat geben möchte. Über türkisch-deutsche Ehen gelinge es der Gemeinde auch, Brücken in die türkische Gesellschaft zu schlagen.
Wie Schwester Johanna erlebt auch Ursula August, dass man ihr in ihrem Viertel, aber auch in der Verwaltung mit viel Gastfreundschaft, Respekt und Interesse begegnet. Und das hält sie nicht für ein spezielles Phänomen des weltoffenen Istanbul, das erlebe sie überall in der Türkei. Auch als Frau – und sie ist bei etlichen offiziellen Anlässen die einzige! – habe sie nie Benachteiligung oder Diskriminierung erfahren.
Keine Rechtssicherheit für die Gemeinde
Besonders hat sich die ehemalige Marler Pfarrerin jetzt über einen Anruf vom Büro des Bezirksbürgermeisters gefreut. Die Sekretärin fragte nach dem Termin von Weihnachten und kündigte an, dass der Bürgermeister eventuell zum Gottesdienst kommen wolle. Falls er es nicht schafft, schickt er auf jeden Fall Geschenke für die Kinder. Wie in jedem Jahr: Eier zu Ostern und süßes Gebäck zu Weihnachten.
Wenn es aber um rechtliche Fragen geht, ist die Welt der Gemeinde nicht ganz so heil wie es scheint. Da wird auch Ursula August energisch. Noch immer gebe es keine verlässliche und dauerhafte juristische Absicherung für die Gemeinde, für Kirche und Gemeindehaus. Gegründet wurde die Gemeinde 1843, in preußischer Zeit. Damals entstand auch die Kirche. Preußen existiert aber schon lange nicht mehr. Deshalb gibt es auch keine rechtlich klaren Besitzverhältnisse für die Gebäude. Die Mitarbeiter aus Deutschland müssen über das Konsulat einreisen.
„Wir werden nur paternalistisch behandelt“, klagt die Pfarrerin. Das heißt, man kann Glück haben und der Daumen zeigt nach oben, man kann auch Pech haben, und der Daumen weist nach unten. Und sie fügt hinzu: „Wir brauchen dringend eine verbriefte Rechtssicherheit.“
Ein knappes Jahr hat Ursula August noch in der Türkei. Dann kehrt sie in ihre westfälische Heimat zurück. Würde sie, wenn sie noch einmal vor die Wahl gestellt würde, noch einmal an den Bosporus gehen? Darauf hat sie ein klare Anwort: „Ja!“. Trotz allem.