Rund 1500-mal ist in der Bibel von der Seele die Rede. Auch in den aktuellen Nachrichten ist das Wort häufig anzutreffen: Allein im Internet (Google-News) taucht die „Seele“ innerhalb von 24 Stunden weit mehr als zehn Mal so häufig auf – allein in deutschsprachigen Medien. Vor diesem Hintergrund müsste sich eigentlich niemand Sorgen machen, dass der Begriff „Seele“ bedeutungslos geworden sei.
„Seele“ wird als Bild für alles Mögliche benutzt. Zum Abschied wird gerne der „Kommunalpolitiker mit Leib und Seele“ gewürdigt. Der Hausmeister ist angeblich „die Seele des Ganzen“. Beim Fußball in der zweiten Halbzeit „haben sich die Jungs den Frust von der Seele geschossen“. Eine Hotelkette verheißt den „Frischekick für die Seele“. Ein Puppentheaterfestival wird als „Urlaub für die Seele“ gepriesen. Und der Kitschklassiker lauert überall dort, wo wir für Geld die „Seele baumeln lassen“ können.
„Psychologie ohne Seele“: Das hat Ursachen
Erstaunlicherweise ist der Begriff allerdings aus dem Jargon der eigentlich Zuständigen weitgehend verschwunden. Nicht nur in Philosophie, Psychologie und Humanwissenschaften sei der Seelenbegriff eine ausgestorbene Art, beklagt der emeritierte Theologieprofessor Ulrich Barth, sondern auch in der gegenwärtigen Theologie könne von einer Aktualität des Seelenbegriffes nicht die Rede sein. Das hat Ursachen, die rund 150 Jahre zurückliegen.
Inmitten eines falsch verstandenen Wissenschaftskultes verdampfte die Seele gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als quasi das Zeitalter einer „Psychologie ohne Seele“ ausgerufen wurde und nur noch von der „Psyche“ die Rede war, was zwar das Gleiche ist, sich aber distanzierter und akademischer anhört. Das mag auch mit der Wolkigkeit zu tun haben – bis heute gibt es kein fachübergreifendes Einverständnis darüber, was das „Seelische“ nun sein könnte und was es vom „Bewussten“, „Selbstbewussten“, Empfindsamen“ und so weiter unterscheidet.
Für Platon war klar, warum die Seele unsterblich ist
„Man wollte sich von den Metaphern und Mythen des Bedeutungsfeldes Seele abgrenzen, natürlich auch von der theologischen Bedeutungssphäre des Seelenbegriffes.“ Psychologie habe nie die Seele zum Thema gehabt, sie müsse sich diesen Begriff (wieder) aneignen, das schreibt und polemisiert Wolfgang Mack, Psychologieprofessor an der Universität der Bundeswehr in München, in einem Aufsatz „Psychologie ohne Seele und Leib“, der jetzt in einem Sammelband zum Thema beim Verlag Mohr Siebeck erschienen ist, herausgegeben von den evangelischen Theologen Jörg Dierken und Malte Dominik Krüger.
Für den Psychologen Mack ist der Mensch ein „unbescheidener Geistkörper“, dessen Seele ihn erst dazu befähigt, finale Demut mit absoluter Hoffnung zu versöhnen: „Nur der Mensch kann der Aufforderung nachkommen, zu bedenken, dass er aus Staub geschaffen wurde und zu Staub werden wird. Aber auch nur der Mensch hofft, dass das nicht sein Ende ist, die Erlösung nicht nur in Auflösung besteht.“
Das schöne Sprachbild verweist auf Einsichten und Argumente, die der griechische Philosoph Platon in seinem Dialogwerk „Phaidon“ zusammenfasste, die später von Aristoteles fortentwickelt wurden und die Philosophen wie Theologen bis heute auf Trab bringen, wenn es um Themen wie „unsterbliche Seele“ geht, um die Verbindung zwischen Körper und Seele, um den Sinn allen Werdens und Vergehens, um das Ideelle und Geistige.
Platon erblickte in der Natur einen Kreislauf, den unsere Seelen überwinden. „Wenn die Lebenden aus den Toten entstehen sollen, dann können die Seelen nicht zugrunde gehen, sondern müssen weiterexistieren“, so fasste der große Philosoph Hans-Georg Gadamer ein Zwiegespräch zwischen Sokrates und seinen Schülern zusammen.
Kann die Seele ohne den Körper sein?
Auf diese Weise steht die Ideenwelt der Platonischen Dialoge an der Wiege des Christentums und seiner Botschaft von Erlösung, Auferstehung, Hoffnung und seelischer Ewigkeit. Zugleich hat Platos Nachdenken bis heute in der Philosophie etwas befeuert, was das „Leib-Seele“-Problem genannt wird, neuerdings auch das „Geist-Gehirn“-Problem.
Bis heute scheiden sich die Großgelehrten in „Dualisten“ und „Materialisten“ – die Dualisten sortieren Geist und Materie auseinander bis hin zu der logisch abgeleiteten Überzeugung, dass Geist ohne Materie existieren könne, vielleicht sogar ewig. Die Materialisten wiederum sind davon überzeugt, dass auch Bewusstsein und Seelenleben irdisch sind und sich daher mit dem Weg alles Irdischen in den Staub machen.
Solche Überzeugungen hört man neuerdings von durchaus einflussreichen Gehirnforschern und Neurowissenschaftlern, die „Seele“ schlichtweg mit dem Hinweis abtun, dass dergleichen weder im Gehirn noch sonstwo im Organismus anzutreffen sei. Gerne bemühen sie den berühmten Arzt und Pathologen Rudolf Virchow (1821-1902): „Ich habe so viele Leichen seziert und nie eine Seele gefunden“ – eine Provokation, die allerdings auch den standfestesten Fundamentaltheologen nicht umhauen konnte, weil daran ja kein Zweifel besteht. Leichen sind unbeseelt.
Anders der renommierte Hirnforscher Gerhard Roth, dessen jüngster Buchtitel „Wie das Gehirn die Seele macht“ durchaus provokatorisch gemeint ist – womöglich in Richtung Theologie. Er bezeichne mit „Seele“ die Gesamtheit der Vorgänge, die sich mit unserem bewussten, vorbewusst-intuitiven und unbewussten Fühlen, Denken und Wollen ausdrückten, schreibt Roth.
„Die Seele ist untrennbar an Hirnfunktionen gebunden. Ihre Eigenschaften und Leistungen formen sich mit der Entwicklung des Gehirns, und mit dem Tod enden diese ‚Seelenvermögen‘.“ Was Professor Roth mit dem Brustton der Überzeugung vorträgt, ist gut ausgearbeitet und neurowissenschaftlich wohl begründet. Seine Thesen erklären viel, aber bei Weitem nicht alles.
„Die Seele bleibt ein ewiges Geheimnis“
Der britische Philosoph und Metaphysiker gibt zu, es bleibe ihm rätselhaft, wie sich das Wasser der neuronalen Aktivität in den Wein des mentalen Erlebens verwandeln könne. Vielmehr stelle für ihn die Verknüpfung zwischen Geist und Gehirn ein tiefes Mysterium dar. „Ein ewiges Geheimnis, dem die menschliche Intelligenz niemals beikommen wird.“ Neurowissenschaftler und Gehirnforscher können uns auf faszinierende Weise zeigen, wie unser Gehirn Informationen aus der Umwelt aufnimmt, in milliardenfacher Vernetzung verarbeitet und zu Handlungen macht, seien sie bewusst, unbewusst oder sogar unterbewusst gesteuert.
Wir können durchaus messen, wie sich im Gehirn verschiedene Partien verändern, wenn wir denken, reüssieren, scheitern, lieben, hassen, vergessen oder kreativ sind. Freilich: Was uns dazu antreibt, wie wir etwa Angst besiegen und Hoffnung annehmen, warum wir uns mit welchem Ziel instinktiv so oder so entscheiden, wie absichtsvoll wir mit anderen Menschen kommunizieren – das bleibt den Neurowissenschaftlern (noch) verborgen. „In diesem Sinne könnte die Hirnforschung zu einer feinerkörnigen ,Auflösung‘ des Komplexes Seele beitragen“, regt der Neurologe und Epilepsieforscher Martin Kurthen im Sammelband „Leibbezogene Seele“ an.