In der Türkei herrscht noch immer Ausnahmezustand. Präsident Erdogan bereitet die Volksabstimmung im April vor, die aus der demokratischen Republik ein Präsidialsystem – einige sprechen sogar von einer Präsidial-Diktatur – machen soll. Kirchenrat Gerhard Duncker, Islambeauftragter der Evangelischen Kirche von Westfalen und Türkeikenner, war kürzlich im Land, um sich einen Eindruck zu verschaffen über die aktuelle Lage. Mit Annemarie Heibrock sprach er über die Situation der Christen, über die Zukunft der deutschen evangelischen Gemeinde und über die Türken, die selbst Opfer der Politik der regierenden AKP sind.
Die politische Entwicklung in der Türkei, die sich nach dem Willen von Präsident Erdogan und seiner regierenden AKP in ein Präsidialsystem wandeln soll, lässt nichts Gutes ahnen für die religiösen Minderheiten im Land. Wie ist aktuell die Stimmung unter den christlichen Gemeinden?
Einer meiner Gesprächspartner hat jetzt gesagt: Es weht ein höflich kühler Wind aus Ankara. Das trifft meiner Meinung nach die aktuelle Atmosphäre sehr gut. Außerdem werden die Christen im Land immer weniger. Viele verlassen die Türkei, weil sie keine Perspektive für sich sehen, weil sie keinen christlichen Ehepartner finden. Andere kehren aus dem Studium im Ausland nicht zurück, weil ihnen als Christen manche Berufsfelder – etwa in der Justiz – verschlossen sind. Dazu kommt, dass es keine Verlässlichkeit gibt. Die Stimmung gegenüber Christen kann immer wieder kippen. Viele Türken sehen in ihnen keine zuverlässigen Staatsbürger.
Nach dem Putschversuch vom vergangenen Juli wurden echte oder vermeintliche Anhänger der Gülen-Bewegung scheinbar willkürlich aus ihren Ämtern vertrieben oder verhaftet. Sind aktuell auch Christen von Verdächtigungen betroffen?
Das scheint zum Glück – bis auf Ausnahmen – nicht der Fall zu sein. Der Konflikt zwischen der Regierungspartei AKP und der Gülen-Bewegung ist primär eine politische und innerislamische/innertürkische Angelegenheit. Aber natürlich gibt es zur Zeit mehr denn je eine große Unsicherheit im Blick auf die rechtliche Absicherung der christlichen Gemeinden, Schulen oder Stiftungen.
Konkret zur deutschen evangelischen Gemeinde in Istanbul: Wie ist es um das Gemeindeleben bestellt?
Die Gemeinde erlebt neuerdings eine stärkere Polizeipräsenz zu ihrem Schutz als das früher der Fall war. Bemerkenswert war das Verhältnis zwischen Gottesdienstbesuchern und Polizei bei einem Sonntagsgottesdienst vor wenigen Wochen: Acht Menschen feierten in der Kirche Gottesdienst, während vier Polizisten vor der Tür standen. Insgesamt leidet das Gemeindeleben auch deshalb, weil immer mehr Ehepartner und Kinder von Deutschen, die aus beruflichen Gründen in der Türkei leben, aufgrund der politischen Unsicherheiten in die Heimat zurückkehren. Einige ziehen auch einfach aus Istanbul weg, etwa nach Bursa, weil sie sich dort sicherer fühlen.
Aber so einfach ist das doch mit dem Wegziehen nicht. Viele haben doch sicher Wohneigentum in Istanbul erworben.
Das macht die Sache tatsächlich nicht leichter. Viele haben auch ihr Geld in türkischen Lira angelegt. Und die hat in den letzten Monaten rund 20 Prozent an Wert eingebüßt. All diese Dinge drücken natürlich auf die Stimmung und führen zu großen Unsicherheiten.
Aktuell wird ein Nachfolger/eine Nachfolgerin von Ursula August für die Pfarrstelle in der deutschen evangelischen Gemeinde gesucht. Sind angesichts dieser Umstände überhaupt Menschen bereit, ein solches Amt anzutreten?
Natürlich gibt es zur Zeit deutlich attraktivere Auslandspfarrstellen als die in der Türkei. Dennoch bin ich sicher, dass sich ein Nachfolger/eine Nachfolgerin für Ursula August finden wird.
Wird er oder sie die Gemeindearbeit so weiterführen können wie das bisher geschehen ist?
Ich bin zuversichtlich, dass die Gemeindearbeit weitergeht. Immerhin besteht die Gemeinde seit mehr als 170 Jahren. Allerdings, und darauf werden sich alle Beteiligten einstellen müssen, werden die Bedingungen schwerer, nicht zuletzt deshalb, weil die Zahl der evangelischen Christen zurückgeht.