Mounir Hentati hatte Gänsehaut, als er die Aufnahmen zum ersten Mal hörte. So schildert der damalige Leiter des in Tunis ansässigen Zentrums für arabische und mediterrane Musik (CMAM) seine Eindrücke von vor 25 Jahren. Bei einer Veranstaltung des Phonogramm-Archivs in Berlin kam er erstmals in Kontakt mit Tonaufnahmen, auf denen tunesische Zwangsrekruten sprechen und singen. Sie hatten im Ersten Weltkrieg für die französische Kolonialmacht gekämpft und waren in Brandenburg interniert.
„Das hat mich nicht nur sehr bewegt, sondern natürlich auch mein Forscher-Interesse geweckt“, sagt Hentati. Doch damals sei die Zeit noch nicht reif gewesen. Erst nach dem politischen Umbruch in Tunesien 2011 kam Bewegung in die Angelegenheit.
Jetzt wurden 445 digitalisierte Tonaufnahmen des Lautarchivs des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik von der Berliner Humboldt-Universität an die Phonothek des CMAM übergeben. Zu hören sind Lieder, Geschichten und Gedichte von Gefangenen aus Nord- und Westafrika. Die Texte und Gesänge wurden während des Ersten Weltkriegs im sogenannten Halbmondlager Wünsdorf-Zossen (Brandenburg) aufgenommen.
In dem Lager waren muslimische Kriegsgefangene aus den französischen und britischen Kolonien interniert. Sie sollten überzeugt werden, zu desertieren, sich den Armeen des Kaiserreichs und des damals mit Deutschland verbündeten Osmanischen Reichs anzuschließen. Der Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen sammelte dort Tonaufnahmen, um die Sprachen zu katalogisieren. Diese mehr als 3.000 Aufnahmen bildeten den Grundstock des Lautarchivs.
Die Gefangenen wurden „mehr oder weniger vor den Trichter gezwungen, hatten gar keine Wahl”, erklärt Michael Willenbücher vom Lautarchiv. Damals “stand der Inhalt der Aufnahme und die Subjektivität der Aufgenommenen gar nicht im Vordergrund”. Was sie sagten, wurde erst viel später transkribiert und übersetzt.
Viele hätten versucht, versteckte Botschaften in den Aufnahmen unterzubringen, erläutert die Kulturhistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts, Alia Mossalem. „Ihnen wurde zum Beispiel aufgetragen, ein Volksmärchen zu erzählen, und dann haben sie einige Elemente geändert, um über ihre eigene Situation als Kriegsgefangene zu sprechen.“
Für viele Beteiligte ist das Projekt „Towards Sonic Resocialization“ zum Umgang mit kolonialem Erbe in Klangarchiven eine Premiere. So auch für den Geldgeber, das Zentrum Deutsche Kulturgutverluste (ZDK), das sich sonst in erster Linie mit Rückgabe entzogenen Kulturguts aus jüdischem Besitz beschäftigt. Es ist das erste Mal, dass Tonaufnahmen und keine Objekte im Mittelpunkt der Restitution stehen.
Doch an wen man diese überhaupt zurückgeben kann, war auch für die Forschenden eine schwierige Frage. „Es sind mehr als nur Objekte. Es sind Geschichten von Menschen. Von Menschen, deren Großeltern in den Krieg zogen und nie zurückkamen“, sagt Kulturhistorikerin Mossalem. „Das ist eine Familiengeschichte, die weggenommen wurde, die Geschichte eines ganzen Landes.“ Deshalb sei es umso wichtiger, die Stimmen zu befreien.
Die Wahl sei auf Tunis als Kooperationspartner gefallen, weil dort der Zugang für Betroffene und Interessierte am einfachsten sei. Die Phonothek verfügt nun über uneingeschränkte Nutzungsrechte und kann die Aufnahmen und die dazugehörige Dokumentation Forschenden, Kunstschaffenden und der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen.
Michael Willenbücher vom Lautarchiv der Humboldt-Uni betont, die Autonomie über die Daten sei ihm sehr wichtig. „Wir wollen damit das koloniale Verhältnis brechen. Wir stellen die Daten zur Verfügung, damit die Kooperationspartner freie Hand haben, damit zu arbeiten, wie sie das für richtig halten.“ Neben Tunesien arbeitet das Projekt mit Institutionen im Senegal und auf Madagaskar zusammen.