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“Die Schoah des 7. Oktober”

Josef Engel ist Sohn eines Auschwitz-Überlebenden, Vater eines getöteten Soldaten und Großvater eines Überlebenden des Hamas-Terrors vom 7. Oktober. Der Holocaust begleitet ihn durch sein Leben.

Der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober weckte viele Ängste in Israel. Assoziationen an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust wurden wach. “Es war eine echte Schoah für dieses Gebiet”, sagt Josef Avi Jair Engel. Der Sohn von Holocaust-Überlebenden wurde in das Palästina des ausgehenden Britischen Mandats geboren. Wie viele der zweiten Generation begleitet der Holocaust sein Leben. Das, was Engel die “Schoah des 7. Oktober” nennt, traf ihn als Großvater: Sein Enkel Ofir wurde von der Hamas in den Gazastreifen entführt und erst nach 54 Tagen, kurz nach seinem 18. Geburtstag, freigelassen.

Der Begriff “Schoah” für den Massenmord am jüdischen Volk durch die Nationalsozialisten geht auf das hebräische Wort für “Katastrophe” oder “Zerstörung” zurück. Im Holocaust habe eine Nation es auf die Tötung der Juden angelegt, die weder Armee noch Staat hatten, die ihnen zur Hilfe kamen, sagt Engel. “Am 7. Oktober ist das gleiche passiert: Jemand wollte Juden töten, und in diesen zehn Stunden hatten sie weder eine Armee noch einen Staat.” Der Staat, so Engel, war abwesend, und deshalb konnte die Hamas so viele Menschen töten. Ein Tod, dem Engels Vater und Enkel knapp entkommen sind.

Die Festnahme, die Ankunft im Lager, die Nummer auf dem Arm: Josef Engel kennt die Details der Leidensgeschichte seines Vaters. Wie er 1937 aus Tschechien ins niederländische Assen kam, um mit anderen jungen Zionisten Landwirtschaft zu lernen, Josefs Mutter kennenlernte und 1942 von der Polizei ausgewiesen wurde. Auf dem Weg in die Schweiz in einer französischen Bäckerei hängenblieb, um niederländischen Juden bei der Flucht zu helfen. Verraten wurde und nach Auschwitz kam. Dann ins Außenlager Golleschau zur Zwangsarbeit. Wieder nach Auschwitz. Und auf den Todesmarsch. Im April 1945 bei den Amerikanern in Flossenbürg ankam, zurück nach Holland ging, seine Freundin heiratete. In Jokne’am im Norden Israels ankam, wo zwei Monate später Josef geboren wurde.

Keines dieser Details hat Engel von seinem Vater. “Als er nach Israel kam, haben sie über ihn gelacht und gefragt, wie es sein kann, dass die Juden nichts dagegen getan haben. Also hat er niemandem außer meiner Mutter seine Geschichte erzählt.” Ein Schulprojekt der Tochter zum Thema “Wurzeln” gab den Anstoß, berichtet Engel. Recherchen nach des Vaters Tod bringen mehr Material zutage. “Die Deutschen sind sehr genau”, sagt er. Auch er lernt Landwirtschaft, verliebt sich in den Kibbuz Ramat Rachel südlich von Jerusalem, wird nach der Armee 1966 dort Mitglied. Alle fünf Kinder und 14 Enkelkinder sind hier geboren und geblieben.

Engel tut, was sein Vater nicht konnte. Er spricht. Über die Holocausterfahrung des Vaters, und das Schicksal seines Enkels Ofir, der seine Freundin im Kibbuz Be’eri besuchte und als Hamas-Geisel im Eilverfahren niederländischer Staatsbürger wurde. Engel trägt einen Hufeisenbart und einen schwarzen Kapuzenpullover mit der hebräischen Forderung “Bringt sie nach Hause – jetzt!”. Ob das enorme Engagement der Niederländer für ihre einzige Geisel bei der Freilassung geholfen hat, vermag er nicht zu sagen, “aber sie haben hart gearbeitet”. Die Zeit für die noch in Gaza gefangenen Geiseln laufe aus, ein Abkommen mit den Führern der Hamas werde immer schwieriger, weil es denen egal sei, was passiere, sie nur tote Juden sehen wollten.

Engel hat lange als Berater des früheren israelischen Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers Schimon Peres (1923-2016) gewirkt. Politisch ordnet er sich in der Mitte ein. Auch nach dem 7. Oktober müsse eine Lösung für ein Zusammenleben von Israelis und Palästinensern, Juden und Nichtjuden gefunden werden, “weil ich nicht glaube, dass wir alle Araber um uns herum töten können und sie nicht alle Juden töten können”. Bisher jedoch fehle es an einem Partner auf palästinensischer Seite. Dass er ein Ende des Konflikts noch erleben werde, hält er für unwahrscheinlich.

An der Wand hinter ihm hängt das Foto seines Sohnes Jair, sonnengebräunt, nackter Oberkörper, blaue Augen und ernster Blick. Jair ist tot. Der Marinesoldat starb 1996 mit 19 Jahren bei einem Tauchtraining. Irgendwie hängt auch sein Tod mit dem Holocaust zusammen, sagt Engel. Jair sei in der Oberstufe nach Polen, auch nach Auschwitz gereist. Zurück kam er mit dem Vorsatz, seinen Armeedienst in einer Einheit höchster Herausforderung und Bedeutung zu leisten.

Nach Jairs Tod fanden die Eltern ein Notizbuch mit Gedichten. Das mit dem Titel “Sechs Millionen Brüder” hatte der Schüler auf der Gedenkveranstaltung in Auschwitz vorgetragen: “Wie kann ein Mensch am Morgen aufstehen/Ein scheinbar normaler Mensch/Und die Lebenden niedermähen und Träume wegpflücken/Die Welt von gestern auslöschen/Wie kann ein einfacher Mensch, der aus der Erde geschaffen wurde/Verwüstung und Ruin in die Welt bringen?/Das werde ich nie verstehen.”

Verständnis, das ist es, was heute mit Blick auf den 7. Oktober fehlt, sagt Josef Engel. Wenn ihn Journalisten nach dem Leid der Kinder in Gaza fragen, verstünden sie nicht, was beim Angriff der Hamas passiert sei und was den Krieg begonnen habe. Auch er denke ständig über das Geschehene nach. “Ich habe in einigen Kriegen gekämpft und weiß, was Krieg ist. Was am 7. Oktober passiert ist, kann ich nicht verstehen.” Vielleicht, so die Hoffnung, werde man eines Tages die Wahrheit hören.