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Die letzte Reise

Als Gerold H. erfährt, dass er unheilbar an Krebs erkrankt ist, steht für ihn fest: Er will sein Leben in Würde selbst beenden. Sein Freund Markus hat ihn dafür in die Schweiz begleitet. Bericht über eine Grenzerfahrung

picture-alliance/ dpa

An dem Tag, an dem Gerold H. sterben wird, lädt er seinen Freund Markus S. ein letztes Mal zum Frühstück ein. Still und übernächtigt sitzen sie im Frühstücksraum des Hotels, in dem sie tags zuvor angekommen sind. Gerolds Sterbezimmer ist nur wenige hundert Meter entfernt, im blauen Stahlhaus des Schweizer Vereins „Dignitas“ (siehe Kasten). Markus hat nur drei Stunden geschlafen. Er macht Fotos. Er weiß: Es sind noch zwei Stunden bis zum Abschied für immer. Und er ist entschlossen, seinen Freund bis zum Ende zu begleiten.

Ein gutes Jahr zuvor kam der Anruf: „Markus, ich habe Krebs.“ Markus zog es den Boden unter den Füßen weg. Gerold war für ihn ein Freund, mit dem er Jahrzehnte seines Lebens geteilt hatte: Familiengeschichten und berufliche Ziele, die Liebe zur Musik und die leidenschaftliche Suche nach der richtigen Form des Glaubens, über den sie tage- und nächtelang diskutieren konnten. „Ich habe ihm so viel zu verdanken“, sagt Markus über den 15 Jahre älteren Gerold. Das Leben ohne ihn würde viel ärmer sein.
Trotzdem war es für Markus keine Frage, dass er Gerold auf seinem Weg in den frei gewählten Tod begleiten würde. Denn für Gerold stand von Anfang an fest: Er will „in Schlips und Kragen“ gehen, so seine Worte, selbstbestimmt und würdevoll. Ein langes Siechtum, das Angewiesensein auf andere, lebenserhaltende Schläuche und Maschinen – all das scheint ihm unerträglich. Ihm bei dieser Entscheidung beizustehen, ist für Markus ein letzter Dienst, den er seinem Freund noch tun kann. Sein Glaube hindert ihn nicht daran. „In dem, was ich als Glauben erfahren habe, wurde jetzt die Nähe im Menschsein das Wichtigste“, sagt er.
Nach einer Chemotherapie, die die Krankheit zunächst zum Stillstand bringt, sammelt Gerold Informationen über die Möglichkeit, sich zu einem selbst gewählten Zeitpunkt zu töten – sicher und ohne andere Menschen damit zu schädigen. Möglich ist das eigentlich nur, wenn ein Arzt ein entsprechendes tödliches Medikament verschreibt – und das ist in Gerolds Heimatland verboten.
Der einzige Weg, der Gerold daher akzeptabel scheint, ist der zu „Dignitas“ in der Schweiz. Als der Krebs wieder ausbricht, deutlich aggressiver diesmal, lehnt er weitere Therapien ab. Er meldet sich bei „Dignitas“ zum Sterben an. Kurze Zeit später kommt die Bestätigung: Der Termin seines Todes steht fest. Sechs Wochen später soll es soweit sein.
Markus hat sich darauf vorbereitet. Seinem Umfeld hat er seinen Entschluss mitgeteilt, seinen Freund beim Sterben zu begleiten. Viele reagieren mit Unverständnis und Ablehnung und machen ihm moralische Vorhaltungen – „das waren vor allem Menschen aus dem kirchlichen Bereich“, erzählt er. Aber er bekommt auch Zustimmung und Bewunderung für seinen Mut.
Markus trifft Gerold in München, wo Gerold sich von seiner Familie verabschiedet. Nur seine Frau und seine Tochter begleiten ihn noch weiter; sein Sohn hat sich entschlossen, nicht mitzukommen. Am nächsten Morgen machen sie sich auf den Weg. Etwa vier Stunden sind es mit dem Auto von München ins schweizerische Pfäffikon, wo „Dignitas“ ein Haus mit Sterbezimmern unterhält. „Es war komisch: Als es klar war, dass es Richtung Ziel geht, fühlte es sich immer leichter an“, erzählt Markus.
Der Empfang im Hotel ist kühl. Wahrscheinlich erkennt man dort bereits die Menschen, die zum Sterben kommen, vermutet Markus. Es müssen noch einige Formalitäten erledigt werden. Zweimal kommt ein Arzt im Hotel vorbei, der sich von Gerold bestätigen lässt, dass er aus freiem Willen in den Tod geht; so will es das schweizerische Gesetz. Dann laufen sie gemeinsam in der Frühlingssonne durch ein Industriegebiet, um sich das Sterbehaus anzusehen. Der erste Eindruck: Ein Containerbau, aber seriös. In einem hübsch gestalteten Garten plätschert ein künstlicher Bach. Trotzdem: „Es war ein Scheißgefühl“, sagt Markus.

„Sie haben jetzt 24 Stunden Zeit“

Am nächsten Morgen: Irgendwann ist der Kaffee ausgetrunken. Es bleibt nur noch der Weg zum Sterbezimmer. Drei solcher Räume befinden sich in dem Gebäude von „Dignitas“, alle mit einer Terrassentür zum Garten hin, durch die man auch eintritt. Eingerichtet sind sie mit einem großen Tisch, einem Sofa und einem Bett auf Rollen. An den Wänden hängen ein paar Bilder in Goldrahmen; einige Bücher und CDs stehen auf einem Regal in der Ecke. „Man kann sich Musik wünschen und religiöse Symbole, zum Beispiel ein Kreuz“, erzählt Markus. Gerold will nichts davon.
Wer bei „Dignitas“ sterben will, bekommt von der Organisation zwei Sterbebegleiter zur Seite gestellt, die alle Vorgänge dokumentieren und bezeugen können, dass der Sterbewillige das tödliche Mittel aus eigener Kraft eingenommen hat. Markus ist beeindruckt von der starken Ausstrahlung der Frau, die sie in Empfang nimmt. „Wir sind jetzt 24 Stunden lang für Sie da“, erklärt sie. „Sie können sich so viel Zeit lassen, wie Sie wollen.“
Später erzählt sie Markus, dass sie es schon erlebt hat, dass Menschen ihre Entscheidung noch zu diesem Zeitpunkt ändern. Gerold aber ist entschlossen. „So lange brauchen wir nicht“, sagt er der Sterbebegleiterin. „Ich möchte es jetzt sofort.“
Er umarmt alle, sagt seiner Frau noch ein paar Worte. „Mir sind dabei die Tränen gekommen“, sagt Markus. „Weil ich wusste, dass er das nicht wollte, habe ich mich zurückgezogen und an den Tisch gesetzt.“ Gerold bekommt ein Medikament, das verhindern soll, dass er das tödliche Betäubungsmittel später wieder erbricht. Die Sterbebegleiterin schiebt das Bett in die Mitte des Zimmers und stellt das Kopfende hoch; Gerold zieht Jackett und Schuhe aus und legt sich darauf. Dann reicht ihm die Sterbebegleiterin das Glas mit dem Betäubungsmittel, das den Tod herbeiführen soll. „Das schmeckt jetzt bitter“, sagt sie. „Gerold hat getrunken und gemeint: Da habe ich schon Bitteres geschmeckt“, erzählt Markus. Ein Stück Schokolade, das den Geschmack verdrängen soll, isst er dann doch hinterher. Seine Frau sitzt bei ihm und hält seine Hand. Nach wenigen Minuten verliert Gerold das Bewusstsein. Es ist ganz still.  Friedlich und befreiend, so empfindet Markus es. „Sein Herz hat noch lange geschlagen“, erzählt er. „Man sah es nur noch am Pulsschlag am Hals. Langsam und unregelmäßig. Ganz selten hat er noch stoßweise Luft geholt.“
Nach einer Weile bittet die Sterbebegleiterin Gerolds Frau, seine Hand loszulassen. „Er kann sonst nicht gehen“, sagt sie. „Das ist oft so. Das Herz ist zu stark.“ Kurz danach kommt noch ein letzter Atemzug, und dann Stille. Gerolds Züge entspannen sich.
„Bei allen hat sich der Druck im Bauch direkt aufgelöst, und wir haben gewusst: Es war gut. Es war richtig“, so erinnert sich Markus an diesen Moment. Sein Gefühl: „Neben der Geburt meiner Tochter war das das Größte, was ich je erlebt habe. Die Ahnung einer Dimension, die über unser Leben hinausgeht.“
Kurz danach verlassen Markus, Gerolds Frau und seine Tochter das Sterbezimmer; den Toten lassen sie zurück. Das Gesetz in der Schweiz sieht vor, dass die beiden Sterbebegleiter jetzt den Staatsanwalt und die Polizei rufen müssen.
Damals, kurz nach Gerolds Tod, hat Markus gesagt: „Ich kann mir auch vorstellen, so zu sterben, wenn ich eine unheilbare Krankheit hätte. Man kann sich voneinander verabschieden, ein letztes Mal umarmen, noch einmal Danke sagen. Noch besser wäre es natürlich, wenn die Sterbehelfer in die eigene Wohnung kommen könnten, wie es in der Schweiz möglich ist.“
Heute, mit dem Abstand einiger Monate, kommen Markus manchmal doch Zweifel. Die Trauer um den verlorenen Freund ist noch lange nicht abgeschlossen. „Es ist die beste aller schlechten Möglichkeiten“, hatte Gerold gesagt, als sein Entschluss feststand. Für ihn war das die Wahrheit. Für die, die weiterleben, bleiben Fragen offen.

Die Namen der erwähnten Personen wurden geändert. Zur Problematik der Beihilfe zur Selbsttötung(„assistierter Suizid“) aus kirchlicher Sicht siehe auch Seite 10.