Am Aschermittwoch hat die Fastenzeit begonnen. Auch für zahlreiche evangelische Christen haben die sieben Wochen bis Ostern eine besondere Bedeutung. Viele nehmen sich vor, in dieser Zeit auf etwas zu verzichten: Zigaretten oder Alkohol, Süßigkeiten oder Fleisch, den Fernsehapparat oder das Internet. Entscheidend ist dabei, herauszufinden, wovon ich tatsächlich abhängig bin oder zu werden drohe. Das muss nicht immer „stoffgebunden“ sein. Klatsch und Tratsch, pausenloses Arbeiten, zu wenig Zeit für die Familie und Freunde… All das und vieles andere kann zur Angewohnheit geworden sein, die meine Freiheit einschränkt.
Nach dem Vorbild der „Anonymen Alkoholiker“
Die erste Frage im Blick auf die Fastenzeit ist also die ehrliche und aufrichtige Suche nach dem, was mich konkret persönlich betrifft. Woran hängt mein Herz? Woran klebe ich? Welche Gewohnheiten rauben mir Zeit, Kraft und echte Lebensfreude? „Woran du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott“, sagt Martin Luther. In der Fastenzeit geht es auch darum, solche „Hausgötzen“ zu entlarven, zu benennen, zu entthronen und Raum zu schaffen für den lebendigen Gott, der uns befreien will zu unserem wahren Sein und zu echter Lebensfreude und Lebendigkeit.
Vor über 80 Jahren entstand in der Stadt Acron in den USA die Bewegung der „Anonymen Alkoholiker“. Damals begegnete der bekannte Chirurg Bob S. (55) dem Börsenmakler Bill W. (39). Beide litten schwer unter Alkoholismus. Sie stellten fest, dass ihr Zwang zu trinken schwand, als sie damit begannen, sich ehrlich über ihre Krankheit auszutauschen. Sie brauchten sich nicht voreinander zu verstecken. Denn sie beide saßen gleichsam im selben Boot. Allmählich erkannten sie dieses Genesungsprinzip und suchten weitere Alkoholiker.
Es gibt viele Formen von Sucht
Es funktionierte: 1939 zählte die Gemeinschaft etwa 100 trockene Alkoholiker. Sie beschlossen, die Grundsätze und Erfahrungen, die sich beim Bemühen, Alkoholikern zur Genesung zu verhelfen, herauskristallisiert hatten, in einem Buch zu veröffentlichen. Dort wurde das Gedankengut der Gemeinschaft in zwölf Schritten zusammengefasst und gezeigt, wie Betroffene diese Schritte umsetzen können. Der Beweis, dass Alkoholiker mit Hilfe des Programms der AA genesen können, war erbracht.
Wie ein Lauffeuer breitete sich die Bewegung aus, erst in den USA, später weltweit. Inzwischen hat sie viele Millionen Anhänger, die sich in Abertausenden Gruppen wöchentlich treffen. Allmählich wurde klar, dass die Prinzipien der Anonymen Alkoholiker auch für viele andere Formen von Sucht oder Gebundenheit funktionieren. Es gibt Spielsucht und Drogensucht, Sexsucht und viele Formen von Ess-Störungen, notorisch Überschuldete und „Messies“ – um nur einige Abhängigkeiten zu nennen. Nicht zu vergessen: die Angehörigen von suchtabhängigen Familienmitgliedern. Als „Co-Abhängige“ werden sie fast immer mit in den Sog der Sucht hineingezogen und brauchen selbst Hilfe. Inzwischen existieren weltweit zahllose Gruppen, die sich solch spezifischen Themen zuwenden.
Gier nach Anerkennung, Erfolg und Wohlstand
Was aber geht das die von uns an, die auf den ersten Blick weder süchtig noch abhängig sind? Der amerikanische Franziskanerpater Richard Rohr behauptet, dass wir alle in irgendeiner Form abhängig sind. In einer Leistungs- und Konsumgesellschaft sind es häufig Anerkennung, Erfolg und Wohlstand, eingefleischte Gewohnheiten, fixierte Verhaltensmuster und vor allem unser Selbstbild und unsere festgefahrenen Meinungen, die uns die wirkliche Freiheit nehmen, die uns Jesus verheißen hat. Rohr meint, das Programm der Anonymen Alkoholiker sei der wesentlichste Beitrag Amerikas zur Spiritualität. Es gibt keinen Menschen, der nicht irgendwie abhängig ist, und sei es noch so versteckt. Und er zeigt die Parallelen zwischen dem Evangelium und diesem Programm:
Nachfolge Jesu heißt: Bindungen loslassen
Jesus ruft Menschen in die Nachfolge, damals wie heute. Nachfolge bedeutet zunächst, nüchtern jene Bindungen zu entdecken, die uns auf dem Weg zu Gott blockieren, unsere Fixierungen, Vermeidungen, Denk- und Verhaltensmuster. „Ändert eure Einstellung und Ausrichtung!“: So könnte man den Ruf zu Umkehr und Buße wörtlich übersetzen, der am Anfang seines Wirkens steht. Jesus selbst ist diesen Weg vorangegangen. Er hielt an nichts fest, er „entäußerte“ sich seiner Göttlichkeit, wurde Mensch wie wir und gab sein Leben hin im Vertrauen auf Gott. Wer sein Leben festhält, wird es verlieren. Wer anhaftet, bleibt unfrei. Die Gute Nachricht Jesu lautet, dass es eine Alternative gibt, eine Freiheit, die Gott dem schenkt, der sich selbst loslässt.
Am Aschermittwoch gibt es auch in vielen evangelischen Kirchen Gottesdienste, die die Fastenzeit einläuten. An vielen Orten in unserer Kirche werden während der Fastenzeit ‚„Exerzitien“ angeboten, wöchentliche Treffen, wo es häufig auch um Themen wie Fasten, Loslassen und Gottvertrauen geht.
Das evangelische Fastenmotto 2017 lautet „Sieben Wochen ohne Sofort“. Das bedeutet unter anderem: ohne sich dem Zwang zu beugen, sich sofort alle Wünsche zu erfüllen. Es geht um die Chance, sich von Gott unterbrechen zu lassen, innezuhalten und neue Formen der Lebendigkeit und des Glücks zu erspüren. Wir alle brauchen das. Die Fastenzeit birgt eine große Chance.