Totgesagte leben länger. Nach dem Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher 1983 verschwanden die von Konrad Kujau ersonnenen intimsten Gedanken des Führers in der Versenkung. Was stand da noch gleich drin?
“Habe kaum Stuhlgang, sehr starkes Magendrücken.” – “Mein Durchfall ist stärker geworden, nehme Kohle.” Für seine Hitler-Tagebücher tauchte Fälscher Konrad Kujau ab den 70er-Jahren ganz tief ein in den brauen Sumpf. Schließlich füllten die angeblich intimsten Gedanken des Führers allein 60 Kladden, die Kujau für eine Millionensumme an den “Stern” verhökerte.
Am Mittwoch sollen die Adolf-Hitler-Fantastereien aus der Feder des im Jahr 2000 gestorbenen Fälschers dem Bundesarchiv in Koblenz übergeben werden. Schon 2013 hatte der “Stern” laut Recherchen des NDR diesen Schritt angekündigt. Nun ist es endlich soweit. Vollzogen wird die Übergabe durch den Medienkonzern Bertelsmann – was auch ein Schlaglicht auf die Veränderungen der Medienbranche in den vergangenen Jahrzehnten wirft.
Seit 1965 wird der “Stern” von dem Hamburger Verlagshaus Gruner + Jahr verlegt. Bertelsmann erwarb 1969 zunächst 25 Prozent an Gruner + Jahr und stockte diesen Anteil bis 1976 auf 74,9 Prozent auf. 2014 übernahm Bertelsmann die restlichen Anteile und wurde damit zum alleinigen Eigentümer. Seit dem 1. Januar 2022 ist Gruner + Jahr Teil von RTL Deutschland. Die RTL Group wiederum ist Bestandteil des Bertelsmann Konzernverbunds.
Das alles lag Anfang der 80er-Jahre noch völlig außerhalb des Vorstellbaren. Der “Stern” befand sich damals auf dem Zenit seines Ansehens. Starreporter Gerd Heidemann hatte in einer geheimen Kommando-Aktion die angeblichen Hitler-Tagebücher erworben. Pro Band berappte das Magazin zunächst 85.000, schlussendlich 200.000 D-Mark. Angesichts der aktuellen Medienkrise kaum zu glauben, wie locker damals das Geld in den großen Redaktionen der Republik saß.
Am 28. April 1983 machte der “Stern” mit der angeblichen Sensation auf, schon auf einer Pressekonferenz drei Tage zuvor hieß es, die Geschichte des Dritten Reiches müsse “in großen Teilen” neu geschrieben werden. Wenig später flog der Schwindel auf. Die von Chefredakteur Felix Schmidt als “Archiv-Ayatollahs” verspotteten Experten wiesen unter anderem nach, dass die Kladden mit Polyesterfäden zusammengehalten wurden, die erst in den 50er-Jahren auf den Markt kamen.
Die Blamage war perfekt. Herausgeber Henri Nannen trat noch im gleichen Jahr von der “Stern”-Kommandobrücke ab, Fälscher Kujau und Reporter Heidemann wurde der Prozess gemacht. “Ich hab’ schon etwas beschissen”, gestand ein grinsender Kujau 1985 im Gespräch mit Thomas Gottschalk. “Aber es hat auch viel, viel Freude gemacht.” Die Verantwortlichen vom “Stern” dürften zu anderen Schlüssen gekommen sein.
Das Gaunerstück lieferte die Vorlage für eine ganze Reihe von filmischen Auseinandersetzungen mit der Materie, angefangen 1992 mit Helmut Dietls unerreichter Komödie “Schtonk!” mit Götz George und Uwe Ochsenknecht bis hin zu der RTL-Miniserie “Faking Hitler” von 2021 mit Moritz Bleibtreu und Lars Eidinger. Diese Serie wiederum basiert zu Teilen auf der gleichnamigen Audio-Doku, für deren Drehbuch Ex-Viva-Moderator Nilz Bokelberg verantwortlich zeichnete. Darin kamen auch Reporter Heidemann (92) und – posthum – Kujau zu Wort: Heidemann hatte sämtliche Telefonate mit dem Fälscher mitgeschnitten.
“Faking Hitler” wurde zu einem der erfolgreichsten Podcasts 2019. Zuletzt legten NDR und das Erste Anfang des Jahres mit TV-Dokumentationen nach. Und entfachten eine Debatte darüber, dass Fälscher Kujau möglicherweise enger Kontakt mit einem neonazistischen Umfeld pflegte als bisher bekannt war und “seinen” Hitler bis zur Harmlosigkeit weichspülte.