Man spürt, es geht dem Evangelisten um die Zeit nach der ersten Aufbruchphase der Kirche. Warten und wach bleiben und aushalten, dass es auch für Christen den Zeitpunkt des Weltendes nicht zu wissen gibt, sie ihn auch nicht aus Hinweisen errechnen können. Jemand sagt: „Warten bedeutet: Immer einen Platz für Christus freihalten!“ Warten heißt darum nicht, sich zurückziehen oder die Hände in den Schoß legen, denn Christus ist gegenwärtig in allen Menschen, die in Not sind. Die Notleidenden als Brüder und Schwestern erkennen und sie so behandeln, als wären sie Christus selbst, ist Verantwortung der Wartenden. Viele haben dabei Gottes Nähe erfahren.
An den letzten beiden Tagen des Kirchenjahres bildet der Judasbrief den Abschluss. Er ist ja auch ganz kurz und sein Name ist für den christlichen Leser keine Empfehlung, weil er an den Jünger erinnert, der Jesus verriet. Aber da besteht kein Zusammenhang. Im Übrigen wird hier nach Markus 6,3 auf einen Bruder des Jakobus angespielt, was ja zugleich ein Bruder Jesu bedeuten würde. Judas heißt aber im Grunde nur: der Jude und ist ein Name, der ähnlich gebildet ist wie später Christian oder Christine: der Christ oder die Christin, wenn man auf den Glauben hinzielte. Judas ist hier möglicherweise auch ein Pseudonym, eine Art Deckname, um für die römische (und andere) Obrigkeit nicht sofort identifizierbar zu sein. Die Verfasser solcher Schriften mussten in jenen Zeiten vorsichtig sein. Es gab auch innergemeindlichen Feinde, die jemanden, der so was schrieb, bei den entsprechenden Stellen verpfiffen.
Der Streit, um den es im Brief geht, dreht sich um Häresie, um Irrlehre oder – zurückhaltender gesagt – um falsche Verkündigung und vor allem Lebensweise. Wahrscheinlich haben sich Ortsfremde, vielleicht Wanderprediger, „eingeschlichen“(4). Es könnte sich um die verbreiteten Gnostiker (etwa: die Wissenden, die, die die ultimative Erkenntnis besitzen) handeln. Sie sind der Meinung, dass jeder Mensch aus dem himmlischen, göttlichen Geist und zugleich aus dem „Fleisch“ besteht. Sie sind überzeugt: Weil der göttliche Kern im Menschen unangreifbar ist, das Fleisch aber vergänglich, kann eben dieses Fleisch machen, was es will. Diese Gnostiker führten ein Leben in jedweder Ausschweifung. Hier genau setzt der Judasbrief an. Was die Begriffe der Gnosis betrifft, erscheinen sie oft sehr nahe und damit verwechselbar mit der biblischen Verkündigung. Aber diese Zügellosigkeit im Leben ist mit einem Christenleben nicht vereinbar. Man darf mit dem Leib, Gottes Schöpfungswerk, kein Schindluder treiben, erst recht nicht auf Kosten anderer.