Im Laufe der Zeit finden die meisten Christinnen und Christen ihren Weg, mit Bibeltexten umzugehen. Das kann aber mit der Zeit eintönig werden. Neue Wege eröffnen neue Entdeckungen. Hier einige Beispiele:
Bibliolog: Bibeltexte sprechen jeden Menschen in seiner Weise an. Jeder hört das, was ihn in seiner Lebenssituation gerade anspricht. „Weißes Feuer“ nennen die Rabbiner das, was nicht schwarz auf weiß in der Bibel steht, sondern zwischen den Zeilen lodert. Das, was nicht aufgeschrieben ist und doch bei jedem Leser und jeder Hörerin Bilder und Emotionen auslöst. Im Bibliolog wird das weiße Feuer entfacht. Junge wie Alte, Bibelkenner wie Neueinsteiger können einer Person der Bibel ihre Gedanken und Emotionen leihen und in die Geschichte hineinsprechen.
Die Rollen und Fragen sind so gewählt, dass es keine Antworten geben kann, die dem Bibeltext widersprechen. Sehr wohl aber einander. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Alles, was gesagt wird, bleibt unkommentiert nebeneinander stehen und lässt das Bibelwort lebendig werden. Dabei entsteht Erstaunliches: Ich bin so hineingezogen in das Geschehen, dass mich ein Jesuswort ins Herz trifft, als wäre es zu mir gesprochen. Ein Aspekt, den ich immer überlesen hatte, wirft ganz neue Fragen auf. Eine Assoziation stellt das Bibelwort in ein neues Licht. „Da wurden ihre Augen geöffnet.“ Was das heißen kann, erfahre ich, wenn ich mich mit anderen im Bibliolog auf die Bibel einlasse.
Pfarrerin Tina Greitemann
Bibel-Teilen: Die Bibel ist das am meisten übersetzte Buch. Es gibt sie auf Französisch, Kanton, Pigin, Kiswaheli und in vielen Sprachen mehr. Der griechisch-orthodoxe Ingenieur, die Anwältin aus Brasilien, die einer Pfingstgemeinde angehört, die katholische Filmemacherin aus Kroatien – sie alle lesen die Bibel. Verstehe ich als Deutscher die Bibel anders als meine Mitchristin aus Afrika? Das kann ich herausfinden beim Bibel-Teilen. Die Methode in sieben Schritten kommt aus Südafrika und wurde dort in den 1970er Jahren für Laiengruppen entwickelt. „Priester und Katecheten haben genügend biblisches Material. Aber die Leute in den Hütten und Dörfern sind auf sich selbst angewiesen. Ihnen sollten wir helfen“, schreibt Oswald Hirmer, der frühere Bischof von Umtata, Südafrika, in seinem Buch zum Bibel-Teilen.
Bibel-Teilen ist das gemeinsame Hören auf das Wort Gottes, eine tiefe spirituelle Erfahrung in der Gruppe. Alle sind Experten und hören aufeinander. Gute reformatorische Praxis also. Die sieben Schritte sind: Gebet. Den Bibeltext gemeinsam laut lesen. Einzelne Worte oder Sätze wiederholen. Schweigen. Teilen, also erzählen, woran man hängengeblieben ist. Handeln: Was will Gott, dass wir tun? Gebet.
Pfarrer Dietmar Will
Lebenswortgruppe: Es gibt eine Form, wie man gemeinsam mit der Bibel leben kann, die wenig Zeit braucht und trotzdem intensiv ist: Lebenswortgruppen. Die Idee kommt aus der katholischen Laienbewegung der Foccolare in Italien. Etwa sieben Leute treffen sich monatlich für eine Stunde. Eine Person leitet die einfache Liturgie mit Liedern, Gebet und Abendmahl. Sie hat ein Bibelwort ausgesucht, das im Alltag begleiten soll. Die einen meditieren es jeden Morgen, indem sie es halblaut sprechen oder über die Vorhaben für den Tag im Licht des Bibelverses nachdenken. Andere kleben sich ein Zettelchen an den Spiegel oder legen es ins Portemonnaie. Manche lassen sich überraschen, wann das Wort ihnen in den Sinn kommt. Mitunter taucht es gar nicht auf. Aber beim nächsten Treffen ist es wieder da. Alle tauschen sich über ihre Erfahrungen aus. Dann bringt ein anderer ein neues Bibelwort ein.
So ein Wort kann erstaunlich direkt in die eigene Situation hineinsprechen. Ein anderes Mal bleibt es langweilig, verschlossen. Wer will, liest nach, wo in der Bibel es steht. Oft erleben Menschen: Das Wort war ein Trost, eine Quelle von Inspiration. Lebenswortgruppen sind eine Möglichkeit, nicht vom Brot allein zu leben und Gottes Kraft im Alltag zu finden. Nicht jedes Wort wird sich mit meinem Leben verbinden. Aber oft reichen ja schon Krümel.
Pfarrerin Lisa Neuhaus
Bibliodrama: Das Bibliodrama ermöglicht es, mit anderen Menschen ganz in eine biblische Geschichte einzutauchen. Das heißt: Im Kreis sitzen und nach dem Hören der Geschichte überlegen: Welche Gestalt spricht mich an, welche Rolle will ich mir überstreifen wie ein Gewand? Auf der Bühne dann ausprobieren, welche Bewegungen, Gesten und Worte zu der biblischen Person passen. Dabei kann man sich so in eine Rolle vertiefen, dass man selbstvergessen dieser Gestalt die eigenen Gefühle und Gedanken, Stimme und Körper leiht. Spielerisch erforsche ich: Wie bin ich als Abraham, der aufbricht, oder als Sara, der Frau an seiner Seite, als Jona im Bauch des Fisches oder als Maria Magdalena am offenen Grab?
Das Spiel lässt offen, was und vor allem wie es geschieht. Das, was unerwartet passiert, lässt aufmerken und macht lebendig: die Geschichten in gleicher Weise wie die Teilnehmenden. In der Spannung zwischen eigenem und konserviertem Leben habe ich viele Momente erlebt, die mich tief bewegt und ergriffen, zum Lachen oder zum Weinen gebracht, die mein Denken und Fühlen verändert haben und manchmal heilsam waren. Beim Bibliodrama spüre ich am deutlichsten die heilsame, aufrüttelnde, lebensverändernde Energie, die den Geschichten der Bibel innewohnt.
Pfarrerin Sabine Fröhlich
Historisch-kritische Methode: Texte entstehen in einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Kontext und werden mit einer bestimmten Absicht geschrieben. Das trifft auch auf biblische Texte zu. Die Geschichtsbücher der Bibel wurden nicht direkt nach den Ereignissen abgefasst, von denen sie erzählen, sondern mit zeitlichem Abstand. Sie wollten die Geschichte deuten und nicht nur historische Sachverhalte wiedergeben. Prophetentexte reagieren auf bestimmte Ereignisse und fordern ihre Zeitgenossen auf, in dieser konkreten Situation auf Gottes Wort zu hören. Die historisch-kritische Methode will diesen Kontext der biblischen Texte verstehen. Es geht in erster Linie nicht um die Frage, was ein biblischer Text heute zu sagen hat, sondern was er den Menschen zu seiner Abfassungszeit sagen wollte. Erst danach kommt die Frage, welche Bedeutung eine Situation der Vergangenheit heute hat.
Professor Wolfgang Zwickel
Das reformatorische Bibelverständnis: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Das schreibt der Apostel Paulus (2. Korinther 3,6). Er sagt damit: Die einzelnen Bibelverse – Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort – sind das eine. Der Geist ist das andere. Es kommt auf das an, was hinter den Bibelworten ist. Oder genauer gesagt: Es kommt auf das an, was durch die Buchstaben in den Herzen geschieht. Martin Luther und die anderen Reformatoren haben sich an diesem Gedanken des Paulus orientiert. Sie haben die Bibel stark gemacht – nicht nur übersetzt und ausgelegt. Sie haben Menschen ermutigt, selbst die Bibel zu lesen, weil in ihr Gottes Geschichte mit den Menschen erzählt wird.
Die Bibel bezeugt in einzigartiger Weise, was Gott für die Menschen will: nicht den Tod, sondern das Leben. Martin Luther meinte: „Was Gott durch den Heiligen Geist ins Herz schreibt, das ist Schrift, ein Brief, den er schreibt. Es sind lebendige Buchstaben, das sind Worte, nicht mit Tinte oder Kreide geschrieben, sondern lebendige Gedanken, Flammen und Bewegungen des Herzens.“ Das ist gegen jeden Biblizismus und Fundamentalismus, der auf einem wortwörtlichen Verständnis einzelner Schriftstellen beharrt. So lese ich die Bibel: Nicht als tote Buchstaben, sondern als das lebendige Wort, mit dem Gott mein Herz erreichen will.
Kirchenpräsident Volker Jung