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“Die Alten und Kranken will keiner”

Cluj, das frühere Klausenburg, ist eine Stadt der Gegensätze. Hier das schicke Zentrum mit der eindrucksvollen Michaelskirche und den vielen, teils jahrhundertealten, liebevoll wiederhergerichteten Häusern, dort die tristen Betonburgen aus der Ceausescu-Zeit, die wirken wie riesige Hochbunker. Hinter deren Mauern leben viele Menschen, die den Sprung in die „neue“ Zeit nicht geschafft haben. Die durch Krankheit oder einen Schicksalsschlag rausgeworfen wurden aus dem Rennen ums Höher, Schneller, Weiter.

Einer von ihnen ist Vasilew. Bei dem 51-Jährigen, der in einem Stahlwerk arbeitete, wurde 2014 ein Hirntumor festgestellt. Seitdem ist er an den Rollstuhl gefesselt. „Ich lief eigenständig ins Krankenhaus und wurde nach der Operation herausgerollt“, berichtet er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Seitdem ist er arbeitsunfähig, lebt in einer winzigen 11-Quadratmeter-Wohnung in einem der grauen Hochhäuser. Monatlich stehen ihm umgerechnet 400 Euro zur Verfügung – zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Allein seine Medikamente kosten rund 100 Euro pro Monat.

„So wie Vasilew geht es vielen, vor allem älteren Menschen hier in Rumänien“, sagt Aura Ioanita, ehrenamtliche Leiterin der Sozialen Arbeit der Orthodoxen Frauen in Klausenburg. Das ist die Frauenorganisation der örtlichen orthodoxen Diözese. „Um Kinder, alleinstehende Mütter und die Flüchtlinge aus der Ukraine kümmern sich viele“, sagt die 41-jährige Psychologin. „Die Alten und Kranken, die auch mal müffeln, will keiner.“

Ihrer nehmen sich die Orthodoxen Frauen an. Rund 70 Männer und Frauen betreuen sie. Der Bedarf wäre um ein Vielfaches höher, sagt Ioanita: „Aber mehr schaffen wir einfach nicht, wenn wir die Menschen als Gegenüber wirklich ernst nehmen wollen.“ Deswegen gilt: Erst wenn jemand der derzeitigen Klienten die Hilfe nicht mehr benötigt, wird ein neuer aufgenommen. „Viele betreuen wir bis zum Lebensende“, so Aura Ioanita.

Die Landesstelle „Hoffnung für Osteuropa“ innerhalb des Diakonischen Werks in Württemberg fördert die Arbeit des Vereins seit Jahren mit monatlich gut 1.000 Euro. Von der orthodoxen Kirche kommen 2.000 Euro und von der Stadt 5.000 Euro. Denn mit seiner Arbeit unterstützt der Verein die Stadt ganz wesentlich. Ein staatlich organisiertes soziales Netz wie in Deutschland gibt es in Rumänien nämlich nicht. 2022 galt laut statista mehr als ein Drittel der Rumänen (34 Prozent) als armutsgefährdet; in Deutschland waren es zur selben Zeit laut Statistischem Bundesamt rund 15 Prozent.

Bei allem Verdruss gibt es in der Arbeit von Aura Ioanita und ihrem Team immer wieder auch Fälle, die Hoffnung machen. Etwa den des Mannes, der fast 20 Jahre in der rumänischen Armee gearbeitet hatte, aber danach nicht die ihm zustehende Pension bekam. „In diesem Fall haben wir eine unserer Mitglieder – eine Juristin – gebeten, persönlich bei der zuständigen Stelle innerhalb der Armee vorzusprechen und darauf hinzuweisen, dass unserem Klienten eine Pension zusteht.“ Mit Erfolg: Wenige Wochen später erhielt der Klient eine Nachricht, dass er fortan rund 150 Euro mehr monatlich bekomme.

Viele Klienten scheiterten schon an der unübersichtlichen Flut von Anträgen auf Unterstützung. „Hier hat Rumänien leider viel von Deutschland übernommen“, sagt Aura Ioanita lachend: „Papiere, Papiere, Papiere.“ Die vier Sozialarbeiterinnen der Orthodoxen Frauen greifen den Klienten dabei unter die Arme, ziehen im Notfall Experten zurate. Die Bedürftigsten unterstützen sie einmal monatlich mit einem Essenspaket im Wert von umgerechnet 35 Euro. Hauptsächlich geht es aber um den sozialen Kontakt. Denn viele Ältere drohen zu vereinsamen in ihren kleinen, anonymen Wohnungen.

So besuchen die Sozialarbeiterinnen, die sich die Klienten aufgeteilt haben, „ihre“ Schützlinge mindestens einmal pro Woche. Zudem haben sie jüngst das Projekt „Adoptiere eine Omi“ ins Leben gerufen. Der Gedanke dahinter ist, dass sich Studenten oder andere Junge gezielt um einen älteren Menschen kümmern – nicht in erster Linie finanziell, sondern vor allem sozial. „Es geht um Besuche, Gespräche, das Gefühl, nicht vergessen zu sein“, erklärt Aura Ioanita das Ziel.

Vasilew ist dankbar für die Arbeit der Frauen. Und er ist dankbar für die Unterstützung aus Deutschland. „Ihr tut damit etwas sehr Wertvolles. Das ist nicht selbstverständlich“, sagt er zum Abschied und rollt davon. (1447/01.07.2024)