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“Deutschland hat sein schönstes Gesicht gezeigt”

Jubelnde und applaudierende Menschen, Banner mit dem Schriftzug „Refugees Welcome“ und Teddybären für die Kinder: Der Münchner Hauptbahnhof wird im Spätsommer 2015 zum Dreh- und Angelpunkt der Fluchtbewegung über die Balkan-Route nach Deutschland. Zehntausende Geflüchtete, vor allem aus Syrien und Afghanistan, kommen Anfang September innerhalb weniger Tage in München an. In der bayerischen Landeshauptstadt herrscht daraufhin Ausnahmezustand. Polizei und freiwillige Helfer arbeiten Tag und Nacht Hand in Hand, um die Asylsuchenden zu registrieren und mit Essen, Trinken und Hygieneartikeln zu versorgen, bevor sie in Unterkünfte gebracht werden. Die Hilfsbereitschaft in München ist so groß, dass die Polizei sogar einen Spendenstopp verhängen muss.

Die ganze Welt blickt in diesen Sommertagen 2015 nach München, internationale Medien berichten über die Ausnahmesituation und über das freundliche Gesicht Deutschlands. Die „New York Times“ (5. September 2015) etwa schreibt anerkennend, dass Deutschland den Geflüchteten „eine offene Hand ausgestreckt hatte“, als kein anderes Land diese Menschen aufnehmen wollte. Und „Al Jazeera“ berichtet, dass „Deutschland seine Türen und Grenzen geöffnet hat für all die, die Zuflucht und einen sicheren Hafen suchen“. Der damalige bayerische evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der die Geflüchteten mit Erzbischof Reinhard Marx am Hauptbahnhof begrüßt hat, findet auch noch zehn Jahre später: „Deutschland hatte 2015 einen richtig starken Moment.“ Die Bundesrepublik habe mit dieser großartigen Willkommenskultur ihr schönstes Gesicht gezeigt, sagt der Vorsitzende des Weltkirchenrats.

Viele Geflüchtete wirken ungläubig angesichts des für sie ungewohnt begeisterten Empfangs. Einige winken, einige sagen schüchtern „Thank you“, einige weinen vor Erleichterung, und die Kinder halten geschenkte Teddybären im Arm. Kein Vergleich mit Ungarn, wo wenige Tage zuvor am Bahnhof Keleti in Budapest Tausende Geflüchtete tagelang festsaßen. Ungarn ließ sie zunächst wegen der geltenden Dublin-Regelung, wonach Flüchtlinge sich in dem Land registrieren mussten, wo sie zuerst EU-Boden betreten haben, nicht nach Deutschland weiterreisen. Doch Ministerpräsident Viktor Orbán machte schnell klar, dass er keine muslimischen Geflüchteten in seinem Land wollte, und erlaubte ihnen schließlich doch die Weiterreise.

Dann gibt es kein Halten mehr: Am 31. August kommen die ersten nur mit Geflüchteten besetzten Züge in München an. Zugleich machen sich Tausende Menschen zu Fuß auf den Weg. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) entscheidet, die Grenzen offen zu halten und die Asylsuchenden zunächst ohne Registrierung einreisen zu lassen. Am 31. August sagt sie ihre inzwischen historischen Worte: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft. Wir schaffen das. Wir schaffen das. Und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.“

In München organisieren sich derweil Einsatzkräfte und Ehrenamtliche, um die Menschen unterzubringen und erstzuversorgen. Höhepunkt ist das erste September-Wochenende (5./6.9.), als insgesamt mehr als 20.000 Geflüchtete in München ankommen. Am 12. September erreichen noch einmal mehr als 12.000 Menschen die bayerische Landeshauptstadt, die zusehends an ihre Grenzen stößt. Die Notunterkünfte sind inzwischen so voll, dass einige Asylsuchende die Nacht am Bahnhof verbringen müssen. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) warnt eindringlich vor einem Kollaps und forderte mehr Unterstützung von den anderen Bundesländern.

Sorgen bereitet inzwischen auch das anstehende Oktoberfest, das am 19. September beginnen soll und Millionen von Besuchern nach München lockt. Bierselige Wiesnbesucher und Tausende Geflüchtete, die am Hauptbahnhof aufeinandertreffen – ein Horrorszenario für die Sicherheitskräfte. Am 13. September kündigt der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) angesichts des nicht abreißenden Andrangs Grenzkontrollen an. Einen Tag später macht Ungarn bei Röske seinen letzten Grenzabschnitt zu Serbien dicht, die Balkan-Route ist damit zu.

Nach und nach kommen deutlich weniger Geflüchtete nach München. Und dennoch sind die Zahlen beispiellos: Zwischen Ende August und 15. September werden mehr als 70.000 Geflüchtete in München gezählt – weit mehr als der Freistaat Bayern im Jahr 2014 insgesamt aufgenommen hat. (2014/22.06.2025)