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“Der Staat kümmert sich bislang nicht um uns”

Die „Rote Treppe“ im Bayerischen Landtag ist an diesem Mittwoch eine Art Scharnier zwischen Öffentlichkeit und Politikbetrieb: Rund 30 Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend Missbrauch erleiden mussten, haben dort auf den Stufen eine Petition zum besseren Schutz von Kindern an Doris Rauscher (SPD) und Thomas Huber (CSU), Vorsitzende des Sozialausschusses, übergeben. „Der Staat hat sich bislang nicht um unsere Bitten gekümmert, wir werden nicht gehört“, sagte Richard Kick, Initiator der Petition und Sprecher des Unabhängigen Betroffenenbeirats in der Erzdiözese München und Freising. „Aber wir haben jahrzehntelang die Folgen von Missbrauch überlebt – das gibt uns die Kraft zu sagen: Wir bleiben dran!“

Die SPD-Landtagsabgeordnete Doris Rauscher, Vorsitzende im Sozialausschuss, begrüßte die Petition: „Auch in Bayern gibt es nach wie vor eine hohe Zahl an Kindern und Jugendlichen, die Opfer von Missbrauch werden“, erklärte sie. Zentrale staatliche Ansprechpersonen könnten „Lücken im Kinderschutz aufzeigen, notwendige Verbesserungen anregen und ihre Umsetzung begleiten“. Ihr Ausschuss-Stellvertreter, der Landtagsabgeordnete Thomas Huber (CSU), sagte, dass er die Petition unterstütze. Es sei wichtig, ein Signal zu senden, „wie ein Staat mit von Missbrauch Betroffenen umgeht“.

Die Petition „Gewalt an Kindern und Jugendlichen entschlossen entgegentreten!“ fordert die Einrichtung einer unabhängigen staatlichen, wissenschaftlich begleiteten Aufarbeitungskommission, außerdem einen Betroffenenrat und einen Landesbeauftragten für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs – Gremien also, wie es sie auf Bundesebene bereits gibt. Das Papier hat bislang mehr als 530 Unterzeichner. Zu den Unterstützern zählen auch der bayerische evangelische Landesbischof Christian Kopp und Martin Pusch von der Anwaltskanzlei „Westpfahl Spilker Wastl“, die das Missbrauchsgutachten für das Münchner Erzbistum erstellt hat.

Pusch hat die Petition mitformuliert. Er erklärte auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd), dass die Vergleichbarkeit der verschiedenen, bislang von den Kirchen erstellten Missbrauchsstudien dringend verbessert werden müsse. Das sei nur mit einer unabhängigen Aufarbeitungskommission möglich, die „Aufarbeitungsprojekte wissenschaftlich begleitet“. Derzeit liegen jeder Missbrauchsuntersuchung – je nach Auftraggeber – unterschiedliche Kriterien zugrunde, sodass die Ergebnisse nicht miteinander verglichen werden könnten.

Auch Landesbischof Kopp begrüßt die Petition an den Landtag: „Seit Jahren fordern wir als evangelische Kirche eine externe Kontrolle unserer Arbeit und allgemeine staatliche Standards in diesem Bereich“, wird er auf der Petitions-Homepage zitiert. Betroffene von Gewalt und Missbrauch hätten oft Schwierigkeiten, sich an die Vertreter jener Institutionen zu wenden, in denen die Übergriffe geschehen seien.

Keine Notwendigkeit für eine Kommission oder einen Landesbeauftragten sieht hingegen das bayerische Familienministerium mit Ministerin Ulrike Scharf (CSU): Aufarbeitung von und Entschädigung nach sexuellem Missbrauch seien Aufgabe der Träger der betroffenen Einrichtungen und der Kommunen. „Die Einrichtung einer Kommission war nie geplant“, teilte das Ministerium auf epd-Anfrage mit. Stattdessen habe man eine zentrale Anlaufstelle für Missbrauchsopfer geschaffen. „In Bayern gibt es ein dichtes und flächendeckendes Hilfenetz für alle Betroffenen von Missbrauch und sexualisierter Gewalt“, sagte Scharf. Auf dieses Netz könnten sich alle Betroffenen von Missbrauch und sexualisierter Gewalt verlassen.

Richard Kick sieht das anders: „Die Hilfsangebote reichen nicht aus“, sagte er. Vor allem für erwachsene Betroffene, deren Gewalterfahrungen schon Jahre zurückliegen, gebe es zu wenige Ansprechpartner. „Die in der vergangenen Legislatur geschaffene Anlauf- und Lotsenstelle am Familienministerium verweist lediglich an bestehende Angebote“, heißt es in der Petition. Das sei aber nicht genug, betonte Kick. Zudem seien Aufarbeitung und Hilfsangebote verschiedene Themen.

Die Petition wird nach Auskunft der Ausschussvorsitzenden nun der Staatsregierung zur Stellungnahme weitergeleitet. Idealerweise stehe dann die Beratung im Sozialausschuss noch vor der Sommerpause auf der Tagesordnung. Doris Rauscher hofft auf Zustimmung in dem Gremium: „Die Betroffenen verdienen eine Anerkennung des Leides, das sie erleben mussten.“ (1226/09.04.2025)