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Der Große Aufbruch: Historiker über Globalisierung seit 1492

Mit der Entdeckung Amerikas begann eine neue Epoche der globalen Geschichte. Die Kontakte und der Austausch zwischen den Zivilisationen wurden immer vielfältiger – damit freilich auch die Konflikte.

“Geschichte darf eines nicht sein: langweilig.” Wolfgang Behringer, emeritierter Historiker aus Saarbrücken, hat schon viele spannende Themen bearbeitet und in der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Er hat über Hexenglauben und -verfolgung vom Mittelalter bis heute geforscht. Er hat den Einfluss des Klimas auf die menschliche Geschichte untersucht. Jetzt hat der Experte für die Frühe Neuzeit pünktlich zur Frankfurter Buchmesse einen 1.300 Seiten starken Wälzer über die Weltgeschichte der Globalisierung seit der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus (1451-1506) vorgelegt.

“Globalgeschichte scheint mir momentan die spannendste Ecke der Geschichtsschreibung zu sein”, schreibt er. Unter dem Titel “Der große Aufbruch” werden viele aktuelle Themen berührt – von Rassismus und Kolonialismus bis zur Debatte über Globalisierung, Menschenrechte und Eurozentrismus. Auch der weltweite Austausch von Pflanzen und Tieren sowie der Umgang mit Fremden werden thematisiert. Der Autor will damit bei seinen Lesern den Sinn für die langfristigen “Tiefenströmungen der Geschichte” schärfen. In einem relativ kurzen Zeitraum, vom 16. bis 18. Jahrhundert, seien die Grundlagen der modernen Welt gelegt worden, so der Historiker.

Behringer hält sein Versprechen. Das Buch wird nie langweilig. Das liegt auch daran, dass er ins Detail geht, Appetithäppchen anbietet und den Leser mitnimmt nach Afrika und Amerika ebenso wie nach Indien und Indonesien und durch das damalige Europa, das seinen zivilisatorischen Rückstand zu dieser Zeit gerade erst aufholte.

So beginnt das Buch mit Hanno, dem weißen indischen Elefanten, den Papst Leo X. im März 1514 vom portugiesischen König als Geschenk erhielt – als Symbol der Herrschaft über die Neue Welt, die Portugiesen und Spanier im zurückliegenden Jahrhundert entdeckt und in Besitz genommen hatten.

Behringers Analysen reichen in bisweilen unbedeutend erscheinende Details. Warum ist das kleine Europa ein Kontinent, während das große Indien bis heute nur als Subkontinent und das riesige China nur als Land bezeichnet wird, fragt er mit Blick auf geografische Benennungssysteme. Sprache spiegelt Macht, so der Historiker. Um dann gleich klarzustellen, dass muslimische, mongolische, aztekische oder afrikanische Eroberer keineswegs sensibler mit der Benennung umgegangen seien als die Europäer.

Wie in diesem Beispiel wendet sich Behringer immer wieder gegen eindimensionale Schuldzuweisungen an die Europäer. Die Sklaverei? In beinahe allen Kulturen anzufinden. “Während der Menschenraub durch Araber und Afrikaner meistens in der Versklavung der Erbeuteten endete, ging es bei Mongolen und Persern eher darum, bestimmte Fähigkeiten der Verschleppten für das eigene Reich zu gewinnen”, schreibt der Historiker mit Blick auf die Frühe Neuzeit. “Chinesen und Europäer verschleppten Indigene, um sie in der eigenen Kultur anzulernen und bei künftigen Fahrten als Dolmetscher einzusetzen.”

Auch das Gefühl kultureller Überlegenheit, das die Europäer in der Frühen Neuzeit entwickelten, ist laut Behringer keineswegs ihr Alleinstellungsmerkmal. “Sinozentrismus, Turkozentrismus, Islamozentrismus, Afrozentrismus etc. waren (und sind) nicht weniger virulent.”

Die Reisen des Kolumbus wertet der Historiker als “den entscheidenden Schritt zur Globalisierung”. 1492 sei “das Jahr, in dem unsere Welt begann”. Nicht nur wegen der Entdeckung des amerikanischen Doppelkontinents durch die Europäer, sondern weil die beiden Amerikas seitdem dauerhaft mit der Alten Welt, also Europa, Asien und Afrika, verknüpft wurden.

Zentral für diese Verknüpfung waren Weltreisen und Weltumsegelungen: Während Händler, Missionare und Abenteurer vor 1500 nur die seit der Antike bekannte Welt, also Indien oder China oder bei Muslimen Afrika, zum Ziel hatten, begann in der Frühen Neuzeit eine rapide Erweiterung des Horizonts. “Die ersten Weltumsegelungen waren beispiellose Wagnisse, am Ende der Frühen Neuzeit waren sie Routine.” Im Lauf des 16. Jahrhunderts wurden bessere Seekarten entwickelt, und ein Netzwerk von verlässlichen Häfen zur Reparatur der Schiffe, zum Auffüllen des Proviants und zur medizinischen Versorgung entstand.

“Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren alle Kontinente entdeckt, Mangelkrankheiten konnte man vermeiden, Schiffsärzte waren obligatorisch. Die Weltkarten entsprachen weitgehend unseren heutigen.” Globale Seefahrten dienten seitdem dem Handel oder wurden zu wissenschaftlichen Expeditionen, an denen Astronomen, Geologen, Zoologen oder Botaniker teilnahmen, um neue Spezies zu finden oder Experimente durchzuführen.