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Das Schönste heraushauen

Mit ihren 1.189 Kapiteln und über 31.000 Versen ist die Bibel ein regelrechter Berg von einem Buch. Diesen in einem Sonntagsgottesdienst zu erklimmen, ist schier unmöglich. Im Kirchsaal gepredigt und gelesen werden daher einzelne „herausgehauene“ Stücke – die Perikopen. Ab dem 1. Advent kommt EKD-weit eine neue Perikopenordnung zum Einsatz. Propst Christian Stäblein erklärt, was neu herausgehauen wurde.

Die ganze Heilige Schrift lässt sich nicht Sonntag für Sonntag vorlesen. Also muss entschieden werden, was im Gottesdienst aus der Bibel gelesen und gepredigt wird. Stücke werden heraus – geschlagen aus der Bibel, das nämlich bedeutet das Wort Perikope. Die Steinbrucharbeit wurde jahrelang geleistet. Am 1. Advent wird das Ergebnis EKD-weit in allen Gemeinden eingeführt. Was alles neu ist und warum das Ergebnis sich sehen lassen kann.

Von Propst Christian Stäblein

Trocken, nein, das will ich als erstes mal raushauen, trocken ist die Sache gar nicht, auch wenn sie so klingen mag: Perikopenrevision. Ein Wort aus dem theologischen Maschinenraum, das nach Gremien und viel Papier schmeckt. Aber: Es geht um ein Herzstück des Glaubenslebens, um die Frage: Was wird im Gottesdienst aus der Bibel gelesen? Die Perikope, wörtlich: das Herausgehauene, Abgeschnittene, der Bibelabschnitt.

Der Glaube kommt aus dem Hören, schreibt der Apostel Paulus. Also: Welche Texte hören wir im Gottesdienst? Was machen wir laut, öffentlich, in der Gemeinde, für die Gesellschaft? Hier das Wichtigste und Schönste, das heute und immer wieder zu Sagende herauszuhauen – was für eine Aufgabe! Jede und jeder überlege für einen Moment, was er oder sie hierfür aus der Bibel herausschneiden würde. Na? Und sofort stellt sich der Gedanke ein: Wer will denn sagen, dieses sei wichtiger als jenes. So viele wunderbare Geschichten, Zeugnisse, Gebote – was davon vorziehen, was weglassen? Geht kaum.

Andererseits: Die ganze Schrift lässt sich auch nicht Sonntag für Sonntag verlesen. Also muss man was raushauen: Perikopen schneiden. Die Herausforderung ist uralt. Wir werden nie damit fertig. Jede Leseordnung bleibt vorläufig, sei niemals Fessel, sondern Geländer in aller evangelischen Freiheit. Seit der frühen Kirche gibt es Überarbeitungen, Revisionen der Perikopenordnung, die letzte größere vor gut 40 Jahren.

Und nun also, zum ersten Advent eine neue „Ordnung der gottesdienstlichen Texte und Lieder“. Womöglich erschreckt jemand: Liebgewonnenes könnte fehlen. Da sei gleich gesagt: Die Neuordnung ist gut evangelisch: maßvoll, behutsam. Zu Weihnachten gehört die Weihnachtsgeschichte des Lukas, zu Ostern die Erzählungen vom Auferstandenen, zu Pfingsten das Brausen des Geistes. Keine Kommission wird daran je etwas ändern. Und überhaupt: Gut protestantisch ist, hier nichts bloß „von oben“ zu entscheiden. Ein Beteiligungsprozess vieler ist vorangegangen, in gut zehn Jahren sind Erfahrungen nachgefragt, Vorschläge erarbeitet, Kritik aufgenommen und Neues erprobt worden.

Viele Gemeinden aus der EKBO haben sich daran beteiligt. Dafür ein herzlicher Dank! Es ist eine gemeinsame Leseordnung; alles andere macht ja keinen Sinn. Was ist denn neu? Alles kann ich hier gar nicht aufzählen. Aber ein paar Dinge. Bisher gab es ein Jahr lang Predigten zu Evangeliums texten, danach ein Jahr ausschließlich Epistel, also Brief – abschnitte. Das war oft anstrengend für Hörende und Predigende. Das ist jetzt im besten Sinne „durchmischt“, keine Monokulturen mehr.

Dazu ist mehr als bisher die ganze Schrift bedacht: Altes und Neues Testament. Schöne, für Glauben und Kulturgeschichte bedeutende Abschnitte, etwa aus dem Buch Hiob, sind dazu gekommen. Daneben erscheint das biblische Zeugnis deutlicher als bisher als ein Zeugnis auch von Frauen, nicht nur von Männern. Mehr Lebenswelt, mehr Themenfelder wie Arbeit, Schöpfung oder Frieden sind beim „Raushauen“ bedacht worden. Das klingt zu sehr nach Schlagworten? Na klar, am Ende wird sich die neue Leseordnung im Gottesdienst erweisen. Etwa im Advent, wenn mit den jetzt ausgewählten Texten die Vorfreude auf den, der kommt und gekommen ist, noch mal anders zum Klingen kommt. Gleich am ersten Advent ist Psalm 24 nun einer der Predigttexte. Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch. Überhaupt: Psalmen, erstmals unter den zu predigenden Worten.

Also: Buch und Herz auf für die überarbeitete Leseordnung. Ich freue mich darauf. Wem das zu viel „neu“ ist: Es ist die eine, alte Botschaft, die durch all die Worte für morgen lebendig werden mag, laut gelesen und hell scheinend in dieser Welt. Also raushauen – diese Worte!