Für viele Menschen hierzulande ist Weihnachten das Highlight des Jahres. Wochen oder gar Monate vorher beginnen sie damit, Geschenke zu planen, zu besorgen und hübsch einzupacken. Dabei stehen besonders Eltern jedes Jahr aufs Neue vor der gleichen Frage: Was sollen wir den Kleinen nur schenken?
Bei einer statista-Umfrage zu den Top-Weihnachtswünschen gaben 19 Prozent der befragten Jungen und Mädchen zwischen 6 und 13 Jahren an, dass sie sich ein Handy wünschen. Mit jeweils 16 Prozent folgten Lego-Spielzeug sowie Kleidung und Schuhe. Immerhin 3 Prozent der Kinder sagten, dass sie gern eine Puppe hätten.
Auch im Zeitalter von Smartphone und Toniebox sind Puppen bei den Jüngsten längst nicht abgemeldet. „Die Puppe war schon immer und ist bis heute das wichtigste Spielzeug des Kindes“, schreibt Gabriele Pohl, Diplompädagogin, Kindertherapeutin und Begründerin des Kaspar-Hauser-Instituts für heilende Pädagogik, Kunst und Psychotherapie in Mannheim. „Mit der Puppe geht das Kind durch Höhen und Tiefen, an ihr übt es sich in Empathie und sozialer Intelligenz und entwickelt so eine Ich-Identität.“
Die Zahlen geben Pohl recht: Der Markt für Puppen und Plüschtiere in Deutschland wird 2024 laut statista einen Umsatz von rund einer Milliarde Euro erzielen – Tendenz steigend. Die Nachfrage nach hochwertigen handgefertigten Puppen und Plüschtieren in Deutschland spiegelt laut statista einerseits das wachsende Interesse an traditionellem Spielzeug wider, andererseits die Wertschätzung für handgefertigte Produkte.
Eine Leidenschaft dafür hat Giuseppe Ricucci, Inhaber der „Puppenklinik“ im Stuttgarter Bohnenviertel. Wie vielen lädierten Puppen er seit Eröffnung seiner Spezialklinik 1995 neues Leben eingehaucht hat, weiß er nicht. „Hunderten, vielleicht Tausenden“, sagt der 62-Jährige. Für manche seiner Kunden ist er die letzte Hoffnung. „Sie wollen nicht irgendeine Puppe und auch keine neue. Sie möchten, dass ihre Puppe wiederhergestellt wird – ob für sich selbst oder als Geschenk für ihre Kinder oder die Enkel.“
Dafür nehmen sie schon mal eine Reise um die halbe Welt auf sich. „Ich hatte Kunden aus Italien und Spanien, aber auch schon aus Australien und den USA.“ Der einen Puppe fehlt ein Auge, einer anderen die Arme. Ricuccis „Operationssaal“ gleicht einem großen Organspende-Lager. In einer Kiste lagern Puppenköpfe, in einer anderen Beine, in einer dritten Puppenkörper in den verschiedensten Größen und Ausführungen. Ricucci findet sie bei Haushaltsauflösungen oder auf Flohmärkten.
Gerade haucht er einer Puppe von 1914 neues Leben ein, die in der einst im thüringischen Waltershausen ansässigen Firma „Kämmer & Reinhardt“ gefertigt wurde. Das blonde Mädchen trägt die Modellnummer 126 und gehört zur Produktionsreihe „Mein Liebling“, die um die Wende zum 20. Jahrhundert ein riesiger Exportschlager war und etwa in den USA als „My Darling“ verkauft wurde. Anders als die unzähligen Billigprodukte von der Stange hatten diese Puppen einen Charakter, findet der Puppendoktor. „In ihrer schlichten Schönheit haben sie die Fantasie der Kinder angeregt und waren Teil der Familie.“
Auch Gabriele Pohl hält nicht viel von modernen, „hochgerüsteten“ Puppen: „Puppen, die alles können, auf Knopfdruck weinen, lachen, sprechen, in die Hosen machen, Kusshändchen werfen oder was sich die Spielwarenindustrie noch so alles einfallen lässt, lassen für die Fantasie des Kindes keinen Raum.“ Prinzipiell gelte: Je jünger das Kind ist, desto einfacher kann und soll die Puppe sein. „Je weniger festgelegt die Puppe ist, desto mehr Fantasie braucht das Kind, um zu ergänzen, was nur angedeutet ist“, erklärt Pohl. „Je weniger Gesichtsausdruck vorgegeben ist, desto mehr Gefühlsqualitäten kann das Kind in seine Puppe hineinlegen.“
Im Idealfall sollten Eltern für ihre Kinder selbst eine Puppe anfertigen, meint die Pädagogin. „Das bedeutet für ein Kind mehr und regt eher zum Spielen an als das Arsenal an perfekter Massenware, wie man es leider in den meisten Kinderzimmern vorfindet.“ Und mit noch einem Vorurteil möchte sie pünktlich vor Weihnachten aufräumen: dass Puppen nur etwas für Mädchen seien. Kuscheltiere, mit denen Jungs häufiger spielen, erfüllten zwar eine ähnliche Funktion wie Puppen: „Dennoch halte ich es für wichtig, dass Jungen mit Puppen spielen. Schließlich werden sie später ja auch nicht Väter von Schlappohrhasen oder Zottelbären.“ (2711/03.12.2024)