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„Das Leben hat nicht nur Sonnentage“

Für NRW-Landtagspräsident André Kuper ist es auch in Zeiten der Pandemie unabdingbar, Tage wie den Volkstrauertag oder den 9. November in würdigem Rahmen zu begehen. Notfalls dürfen dazu auch neue Formate bemüht werden.

Verschoben, nicht aufgehoben: Das galt auch für das Gedenken an die Befreiung des ehemaligen NS-Stammlagers „Stalag 326“ nahe Stukenbrock vor 75 Jahren (Bericht auf Seite 7). US-Soldaten waren am 2. April 1945 in das Lager eingerückt, die Gedenkfeier wurde aufgrund der Corona-Maßnahmen erst jetzt im Oktober durchgeführt. Unter den Rednern war NRW-Landtagspräsident André Kuper. Bernd Becker sprach mit ihm über die Stalag-Gedenkstätte und Gedenkfeiern überhaupt in Zeiten der Pandemie.

 

Wie verändert die Pandemie den Umgang mit den verschiedenen Gedenk- und Feiertagen in diesem Herbst?
Es ist leider so, dass viele Veranstaltungen abgesagt werden. Zum ersten Mal in der neueren Geschichte können Gedenkfeiern nicht wie üblich durchgeführt werden. Das bedaure ich sehr. Am Volkstrauertag findet zum Beispiel sonst ein großes zentrales Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern der Landesregierung, des Landtags und des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge statt. Das muss in diesem Jahr ausfallen. Vieles ist nicht so möglich, wie wir es gewohnt sind. Manche Termine konnten wir jetzt noch im Freien abhalten, das wird aber ab dem Spätherbst witterungsbedingt nicht mehr möglich sein. Aber ich sage auch: Die Verpflichtung zum Gedenken bleibt. Wir dürfen das Erinnern nicht vergessen. Und es gibt Möglichkeiten, diese Tage dennoch zu begehen, selbst in den eigenen vier Wänden daheim.

 

Haben Sie dafür konkrete Anregungen?
Jede und jeder Einzelne von uns kann die Gräber der Verstorbenen besuchen. Da spricht auch in Zeiten von Corona nichts dagegen. Es besteht zudem die Möglichkeit, an Erinnerungsorte in der Heimat zu gehen. Ich denke da etwa an die ehemaligen Synagogen in Nordrhein-Westfalen. Daneben können wir unter Achtung der Coronaregeln Kontakt zu Menschen aufnehmen, die in diesen Wochen besonders betrübt sind. Wir können andere begleiten, sie anrufen, ihnen Briefe schreiben. Damit zeigen wir einem lieben Menschen: Ich denke an dich, auch wenn ein Treffen in dieser Situation nicht möglich ist. Solche Gesten sind wichtige Zeichen, denn sie zeigen: Was uns verbindet ist stärker als das, was uns zusetzt und bedrückt.

 

Sind in Ihrem Verantwortungsbereich auch digitale Alternativen im Blick?
Wir sind zum Beispiel aktuell mit dem Volksbund in Gesprächen über solche medialen Möglichkeiten. Unsere Grußworte haben wir bereits digital aufgenommen. Denkbar ist, dass der Vorsitzende, Thomas Kutschaty, Ministerpräsident Laschet und ich ergänzend an einem zentralen Ort des Gedenkens Kränze niederlegen. Das könnte man filmen und in sozialen Medien veröffentlichen. So entstehen sogar neue Formate, und wir können die Menschen im Land teilhaben lassen. Auch hier ist Flexibilität gefragt.

 

Haben Sie zu einzelnen der Gedenktage im Herbst eine besondere Beziehung?
Durch meine Verbundenheit mit dem Volksbund hat der Volkstrauertag jedes Jahr großes Gewicht. Gleichzeitig ist der 9. November ein bedeutender Gedenktag, wenn wir uns an die Reichspogromnacht erinnern. Ich persönlich finde den Blick auf diesen Tag im Jahr 1938 emotional sogar schwerwiegender. Deutschland hat solch große Schuld auf sich geladen, das darf nicht vergessen werden. Aber auch die anderen Feiertage haben ihren Wert. Es ist schwierig, da eine Rangfolge zu erstellen. Der 9. November ist ja gleichzeitig das Datum des Mauerfalls, da kommen ebenfalls jedes Jahr Erinnerungen hoch. Über meine Frau hatten wir schon seit Anfang der 80er Jahre eine Freundschaft zu einer Familie in Potsdam-Babelsberg. Sie engagiert sich sehr in der katholischen Kirche und so waren unsere Besuche von den üblichen Schikanen begleitet. Bei Telefonaten war klar: Wir wurden abgehört. Dann zu erleben, wie die Mauer fällt – das war schon einzigartig.

 

Wie werden Sie als Landtagspräsident in diesem Jahr der Reichspogromnacht gedenken?
Auch hier gilt leider: Die Zentralveranstaltung in Düsseldorf wurde abgesagt. Es wird eine stille Kranzniederlegung am Ort der zerstörten Synagoge an der Kasernenstaße geben. Landtag, Landesregierung, Gewerkschaften, die Stadt und die jüdischen Verbände sind daran beteiligt und werden Video-Statements abgeben. Diese sollen über die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf digital veröffentlicht werden. Ansonsten verzichtet die Landeshauptstadt auf Gedenkfeiern.

 

Die Gedenkstätte „Stalag 326 Senne“ in Schloß Holte-Stukenbrock liegt Ihnen besonders am Herzen (siehe Kasten). Konnte der 75. Jahrestag der Befreiung dieses Stammlagers begangen werden?
Tatsächlich sollte es zunächst am 2. April eine große Veranstaltung zu diesem Anlass geben. Diese musste ausfallen, und wir haben das Gedenken in kleinem Kreis am 9. Oktober nachgeholt. Stalag 326 war eines der größten Lager für sowjetische Kriegsgefangene. 300 000 Menschen wurden dort zwischen 1941 bis 1945 eingesperrt. Bis zu 65 000 Soldaten starben an Hunger, Misshandlungen und Krankheit. Etwa einen Kilomater entfernt wurden sie in Massengräbern beerdigt. Das sind riesige Dimensionen. Mit vielen anderen ist es mein Ziel, aus der Dokumentationsstätte eine wirkliche Gedenkstätte zu machen.

Obwohl ich aus der Region stamme, habe ich erst spät von Stalag 326 erfahren. Mir wurde deutlich: Wir müssen diesen Ort aus dem Erinnerungsschatten herausholen. Der Besuch von Bundespräsident Gauck vor fünf Jahren hat dazu beigetragen. Und ich selbst möchte in meinem Amt als Landtagspräsident ebenfalls wichtige Impulse setzen.

In der vergangenen Woche haben Ministerpräsident Laschet und ich an den 75. Jahrestag der Befreiung dieses Lagers erinnert.

 

Warum setzen Sie sich für diesen Ort besonders ein?
In dem Wort Geschichte steckt ja der Begriff „Schicht“. Das Gelände von Stalag 326 hat auch verschiedene historische Schichten. Nach 1945 wurde es zum Internierungslager der Alliierten für deutsche Kriegsverbrecher und Nazi-Funktionäre. Ende 1947 hat dann das Sozialwerk Stukenbrock hier Flüchtlinge und Vertriebene untergebracht. Der Zustrom von Hilfsbedürftigen, insbesondere Kindern, riss nicht ab. Verantwortlich waren unter anderem Caritas und Diakonie, und das Deutsche Rote Kreuz.

Später wurden auch Flüchtlinge aus der DDR aufgenommen, und von 1970 bis heute hat das Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten (LAFP) der Polizei Nordrhein-Westfalen hier seinen Standort.

Die Geschichte dieses Geländes ist geprägt durch Krieg, Kriegsfolgen und Vertreibung. Das soll in einer künftigen Gedenkstätte berücksichtigt werden. Derzeit wird die Anerkennung geprüft, dann folgt die Detailplanung, und die Eröffnung könnte 2025 erfolgen. Das wäre großartig. Wir erfahren dabei Unterstützung von allen demokratischen Parteien.

 

Wenn Sie an diese verschiedenen Anlässe denken: Empfinden Sie den Herbst als eine besonders traurige Zeit?
Wir brauchen den gesellschaftlichen Zusammenhalt, dafür setze ich mich ein. Sonnentage im Leben sind schön, wir möchten alle ein möglichst fröhliches Leben führen. Aber Herbsttage sind ebenso wichtig. In dieser Zeit erinnern wir uns und geben diese Erinnerungen an unsere Kinder weiter. Ich denke, heutzutage spüren wir: Demokratie ist gar nicht so selbstverständlich, wie wir oft meinen. Deshalb sollten wir in Demut besonders darauf blicken, an welch unsägliches Leid wir an vielen Gedenktagen erinnern.

Ja, es ist eine trübe Zeit, aber wir können sie auch gestalten. Als Familie gehen wir etwa jedes Jahr an Allerheiligen zum Friedhof und stellen Lichter auf die Gräber. Das ist bei uns Tradition. Und ab dem ersten Advent freuen wir uns dann, dass es im Haus durch die Kerzen wieder heller wird, wenn die Hoffnung von Weihnachten uns bald erreicht.

 

Sind Sie guter Hoffnung, wenn Sie an die demokratischen Kräfte im Lande denken?
Aus meiner Sicht wird es Demokratie künftig nur geben, wenn sich nicht allein die Kommunalpolitiker oder Landtags- und Bundestagsabgeordnete dafür engagieren. Die Bürgerinnen und Bürger tragen die Demokratie. Dazu gehört es auch, im privaten Umfeld Farbe zu bekennen. Das war früher vielleicht tabu, ist heute aber wichtig. Man darf auch streiten, solange es unter der Beachtung von Spielregeln geschieht. Ich ermuntere ausdrücklich dazu.

Und ich suche vermehrt den Kontakt zu jungen Menschen. Wir müssen alle miteinander sprechen und diskutieren. Demokratiefeindlichen Kräften dürfen wir nicht das Feld überlassen. Auch wenn es in sozialen Medien manchmal anders aussieht, sind diese in der Minderheit. Das soll auch so bleiben.

Jugendliche geben mir übrigens große Hoffnung für die Zukunft. Nicht nur die Bewegung „Fridays for future“ zeigt, wie sehr junge Leute bereit sind, sich für unser Land und für diese Welt zu engagieren.