Eine rote Kuh begrüßt die Besucher gleich zu Beginn der Jonathan-Meese-Ausstellung in der Lübecker Kulturkirche St. Petri. Fast hätte man das Hüpftier für Kinder übersehen – ist es doch nur ein kleiner Teil einer gigantischen Gesamt-Installation, die in ihrer Fülle fast erschlägt. Mit Katzen, Delfinen und Tigern bedruckte Kitsch-Decken hängen im Kirchenschiff. In der einen Ecke stehen zum Teil bemalte Schaufensterpuppen, in der anderen Skelette, darunter ein Haufen Chipsdosen. Auf dem Altar hat Meese eine Styropor-Säule installiert, mit der Aufschrift: „Der heillose Gral“.
Jonathan Meese (49) ist ein zeitgenössischer Hamburger Künstler und längst kein unbekannter mehr. Seine bislang größte Ausstellung wurde jetzt zunächst an zwei von fünf Standorten in Lübeck eröffnet. Unter dem Titel „Dr. Zuhause: K.U.N.S.T. (Erzliebe)“ zeigt er in der Kulturkirche St. Petri und im Günter-Grass-Haus Installationen und Malereien zum Thema Heimat. Die Kunsthalle St. Annen und die Overbeck-Gesellschaft sollen am 30. März folgen. (Siehe Kasten „Standorte“)
Meese gilt als radikal und expressiv. Wo er geht und steht, propagiert er die Diktatur der Kunst. Vor der Presse gibt er sich zahm, schüttelt den Journalisten die Hand, umarmt seine Lübecker Kooperationspartner mit Küsschen. An seiner Seite ist stets „Mami“, seine 89-jährige Mutter Brigitte Meese, die ihn managt und seine engste Vertraute ist. Ihr gilt auch bei der Eröffnung der Ausstellung seine erste Frage: „Ist Mami schon da? Das ist das Wichtigste!“ Ja, Mami ist da. Sie ist die zahlreichen Stufen bis in den ersten Stock des Holstentors gekraxelt.
Meese kraxelt hinterher, angetan von der Architektur des Lübecker Wahrzeichens. „Das Holstentor ist Kunst! Es hat das politische System, in dem es entstand, überlebt!“, ruft er und hat damit seine Kernbotschaft für die Lübecker schon platziert. Religiöse und politische Ideologien muss man zerstören, sagt Meese, die Zukunft gehört allein der Kunst. Und die will er mit seiner Ausstellung nach Lübeck bringen.
Sowohl für Meese als auch für die Kulturschaffenden der Hansestadt ist die umfangreiche Schau einmalig – und ein Experiment. Keiner von den Verantwortlichen wusste genau, was Meese in Lübeck anstellen würde. Auf dem Presse-Podium wirkten alle zufrieden. Dabei ist seine Kunst umstritten.
Auf die Frage, ob Lübeck einen Skandal-Künstler wie Meese braucht, nimmt der Kurator der Ausstellung, Oliver Zybok, seinen langjährigen Freund in Schutz. Die Kritik an ihm sei oft „pauschal diffamierend“. Stattdessen wolle man mit dem Lübeck-Projekt einen differenzierteren Blick auf Meese bieten. „Denn wenn man dem Künstler genau zuhört, merkt man schnell, dass hier jemand unsere Gegenwart genau beobachtet und die Finger in die Wunden legt. Und genau das ist eine Aufgabe von Kunst“, so Zybok.
Meese selbst ist es egal, ob seine Kunst dem Betrachter gefällt oder nicht. „Ich mag es, Skandal-Künstler oder das ‚enfant terrible‘ zu sein“, sagt er. Er male auch nicht, um sich zu gefallen, sondern um sich herauszufordern. „Künstler müssen provozieren. Und die Selbstzensur, die sich einige Künstler auferlegen, ist wahnsinnig“, so Meese. Allerdings sei er kein Atheist, wie er oft lese. „Ich bin wie ein Tierbaby. Ich kenne keine Ideologie, meine Mutter hat mir das nicht antrainiert. Ich bin völlig frei.“
Frei für die Kunst, die für Meese keine Grenzen kennt. Die Ausstellung in St. Petri steht unter dem Titel „Großmutter und Macht“. Die „Oma“ findet sich auch tatsächlich in St. Petri – als übermenschlich großer Styropor-Klumpen, in Teilen angemalt und mit einer Locken-Perücke. Vier Tage lang hat Meese die Ausstellung mit seinem Team arrangiert. Zwei Trucks mit Anhängern sind aus Berlin angereist, um alle Exponate in die Kulturkirche zu schaffen. Aus den Lautsprechern ertönen Hörspiele, die Meese vor Jahren selbst geschrieben und gesprochen hat.
Ob das rote Hüpftier aus St. Petri so lange überlebt wie das spätgotische Holstentor? Wenn Jonathan Meese sich für ein Pressefoto draufsetzt, vielleicht schon. Denn die Figur Meese ist selbst ein großer Teil seiner Kunst.
• Jonathan Meese wurde am 23. Januar 1970 in Tokio/Japan geboren und kam als Dreijähriger mit seiner Mutter nach Deutschland. Er studierte an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, lebt in Berlin und Ahrensburg. Seine polarisierenden Werke umfassen Malerei, Texte, Skulpturen, Installationen, Videokunst und Theaterarbeiten und werden international gezeigt. Auf drastische Weise thematisiert er in seiner Kunst deutsche Mythologie und „deutschen Wahn“. In Interviews verurteilt er oftmals lautstark alle politischen Systeme und fordert eine „Diktatur der Kunst“. KNA