Als Jörg Rautenberg und seine Freundin Katrin morgens aus ihrem Camper krabbeln, läuten die Kirchenglocken fast direkt über ihren Köpfen. „Ich habe aber geschlafen wie ein Stein“, sagt der 58-Jährige munter. Der Wagen des Paars steht auf einer frisch gemähten Wiese unmittelbar neben der Kirche im niedersächsischen Evessen am Elm im Landkreis Wolfenbüttel. Rautenberg und seine Freundin zählen zu den ersten Gästen der Initiative „Church4night“, einem bundesweiten Pilotprojekt, das Camping an Kirchen ermöglichen will.
Während in den Bäumen über ihnen die Vögel zwitschern, baut das Paar vor der Kulisse der fast 1000 Jahre alten Kirche den Frühstückstisch auf. Kaffeeduft strömt bald über die Wiese. Es gibt Eier und Toast mit Marmelade und beide genießen von ihren Campingstühlen aus den Ausblick über die Felder. Der gebürtige Dortmunder hatte in der Zeitung von dem Projekt gelesen. Die Übernachtung an der Kirche sei für ihn und seine Freundin aus München der perfekte Zwischenstopp auf dem Weg zur Ostsee.
Vorbilder in Großbritannien
Der evangelische Pfarrer Martin Cachej läuft über die Wiese und begrüßt die Übernachtungsgäste an diesem Morgen mit einem fröhlichen „Moinsen!“. Auf die Nachfrage, wie die Übernachtung an der Kirche war, antworten beide, es sei „frostig“ gewesen. Die Standheizung hätten sie ein paar Mal anschalten müssen. Am Abend zuvor funktionierte auch der Gaskocher nicht, und so ging es ohne warme Mahlzeit und Wärmflasche auf die Matratze. „Hättet ihr mal angerufen, wir hätten euch etwas gebracht“, sagt Cachej.
Der Theologe ist während der Corona-Pandemie selbst zum Camper geworden und Ideengeber von „Church4night“. Vorbilder gibt es in Großbritannien: Herbergskirchen und das sogenannte Champing (Wortschöpfung aus „church“ und „camping“), wo Besucher in Kirchen übernachten können. Auch in der Markus-Gemeinde in Evessen können Gäste ab Mitte Mai auf eigens gebauten Betten unter der Orgelempore schlafen. „Kirchen haben im ländlichen Raum oft Platz und liegen in wunderschönen Gegenden“, schwärmt Cachej.
Nicht mehr als 24 Stunden
Ein eigens erstelltes Internetportal soll künftig in ganz Deutschland Camper und teilnehmende Kirchengemeinden zusammenbringen. Ein paar rechtliche Vorgaben müssen allerdings eingehalten werden: Es dürfen nie mehr als drei Fahrzeuge gleichzeitig auf einem Grundstück stehen und die Verweildauer ist auf 24 Stunden begrenzt, wie Cachej erläutert.
Gewisse Regeln seien bei einem derartigen Projekt wichtig, erklärt auch der Inhaber des Lehrstuhls für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Harald Pechlaner. Den Gästen müsse klar sein, dass es sich um eine Kirche und einen sakralen Ort handele. „Camping an der Kirche kann gut funktionieren, aber die Kirche ist kein Campingplatz“, sagt der Professor, der seit mehr als zehn Jahren zu Kirche und Tourismus forscht. Den Campern müsse dieser Respekt vor dem Ort vermittelt werden.
Auch Cachej verschickt an seine Gäste vorab ein paar Informationen und Hinweise. Das Angebot sei eine Ergänzung und keine Konkurrenz zum üblichen Campingplatz, betont der Theologe: „Landvergnügen an Kirchen für eine Nacht.“
Viele Möglichkeiten zur Zusammenarbeit vor Ort
Weitere Ideen könnten die Kirchengemeinden selbst entwickeln, etwa eine regionale Versorgung mit Brötchen vom örtlichen Bäcker. Bislang erntet das Projekt viel Begeisterung. „Es war wunderbar dort und wir hatten ein tolles Gespräch mit dem Pfarrer“, schreibt ein Gast in seiner Online-Rezension. Ein anderer freut sich schon auf viele weitere Kirchen-Stellplätze.
Auch das evangelische Stift Börstel, ein ehemaliges Zisterzienserkloster bei Osnabrück, beteiligt sich ab diesem Sommer am Projekt. Die Kirchengemeinde Rittermannshagen-Gielow in Mecklenburg-Vorpommern ist bereits dabei. Der dortige Pfarrer Carsten Altschwager sieht im Camping an der Kirche eine Chance – und die Gäste hätten ihn bestärkt: „Sie kamen, wir tauschten uns aus und kamen über Gott und die Welt ins Gespräch.“ Die Camper hätten den Stellplatz und die Gegend der Mecklenburgischen Seenplatte genossen: „Sie ließen einen liebevoll geschriebenen Brief da und fuhren wieder.“
Nähe zur Kirche „fühlt sich gut an“
Jörg Rautenberg und seine Freundin Katrin würden gern öfter an einer Kirche campen. „Gerade ich als Frau fühle mich sonst in freier Natur gelegentlich schutzlos“, sagte die 49-Jährige. Die Nähe zur Kirche und zum Dorf fühle sich da gut an. In dem rund 900 Einwohner zählenden Ort seien sie „beguckt, aber nicht angesprochen“ worden, schmunzelt der IT-Administrator Rautenberg.
Auf der Rückreise wollen beide unbedingt auch noch die Kirche anschauen. „Obwohl ich nicht Mitglied in der Kirche bin“, ergänzt die Münchnerin. Im Vergleich zum Campingplatz schätzen die beiden auch, dass sie weder bei der Ankunft noch bei der Abfahrt an feste Uhrzeiten gebunden seien. Sie können sich mit dem Frühstück Zeit lassen: „Ab heute ist Urlaub.“
• Weitere Infos gibt es auf www.church4night.de/.