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Bürgermeister von Temeswar fordert neues Ost-West-Verhältnis

In Rumänien bereiten sich Nationalisten und Europa-Skeptiker auf die Wahlen 2024 vor. Dominic Fritz hat andere politische Werkzeuge: Er setzt auf europäische Verbundenheit – eine Einstellung, die den Deutschen zum Bürgermeister von Rumäniens drittgrößter Stadt machte. Temeswar (Timisoara) ist Kulturhauptstadt Europas 2023 – und habe in dieser Zeit geholfen, Mauern in Europa niederzureißen, erzählt Fritz im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

KNA: Herr Fritz, noch eineinhalb Monate ist Temeswar europäische Kulturhauptstadt. Können Sie trotzdem schon ein Fazit ziehen?

Dominic Fritz: Ein richtiges Fazit kann man erst in ein paar Jahren ziehen. Denn für uns ist die große Herausforderung nicht, das Jahr gut über die Bühne zu bringen. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, mithilfe von Kultur eine langfristige positive Entwicklung anzustoßen. Dabei sehen wir jetzt schon, dass dieses Jahr für unsere Stadt und auch Europa ein voller Erfolg war. Temeswar hat es geschafft, sich in eine europäische Diskussion einzubringen und Stereotype aufzubrechen. Besucher aus Westeuropa, ob Politiker, Journalisten oder Touristen, sind erst mal geschockt, wie sehr die Realität hier vor Ort, die kulturelle und wirtschaftliche Dynamik, auseinanderklafft mit den Stereotypen, die über dieses Land und die Region herrschen. Der Titel der Kulturhauptstadt hat einiges aufgebrochen.

KNA: Temeswar hat ein ungarisches, türkisches, österreichisches und deutsches Erbe. Wie beschreibt man die Stadt in einem Satz?

Fritz: Temeswar ist eine multikulturelle, bunte und innovative Stadt mit verschiedenen historischen Stadtkernen, die im Laufe der Geschichte immer wieder den Mut und die Kraft gefunden hat, Europa voranzubringen. Nicht zuletzt mit der (rumänischen) Revolution 1989, die hier ihren Ausgang genommen hat.

KNA: Vor kurzem plädierten Sie für ein neues Verhältnis zwischen Ost-, Mittel- und Westeuropa. Warum?

Fritz: In vielen Köpfen gibt es immer noch einen Eisernen Vorhang. Gerade in den Köpfen von Politikern und in Westeuropa wird Mittel- und Osteuropa als Nachzügler in der Peripherie wahrgenommen. Das ist historisch und wirtschaftlich begründbar. Trotzdem entspricht es in ganz vielen Aspekten nicht mehr der Realität. Das heißt also, dass wir Europa mit einem verzerrten Blick wahrnehmen und dass der große Beitrag, den Mittel- und Osteuropa zu unserer heutigen Europäischen Union geleistet hat, nicht gesehen wird. Ein Beispiel ist der Ukraine-Krieg. Die Osteuropäer haben seit Jahren vor der Aggression Russlands gewarnt – aber das wurde nie ernstgenommen.

KNA: Ihr Appell an Westeuropa?

Fritz: … viel besser die Realität wahrzunehmen. Dort findet auch unterhalb der nationalstaatlichen Ebene Innovation statt, und es gibt Antworten, die Europa gerade sucht. Die kann man etwa in Temeswar finden, wo seit Jahrhunderten Menschen unterschiedlicher Muttersprachen und Konfessionen nicht nur friedlich, sondern auch produktiv zusammenleben. Viele in Europa könnten von diesem Beispiel lernen, wie aus kultureller Diversität Innovation entstehen kann. Wir müssen (osteuropäische) Länder stärker in den Blick nehmen; zum Beispiel als Sitz für Institutionen – und die Bewohner für Führungspositionen in Europa.

KNA: Temeswar verkörperte also schon die EU, bevor es diese überhaupt gab?

Fritz: Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Hier in Temeswar atmeten die Menschen schon europäische Luft, lange bevor die Bewohner meines kleinen Schwarzwald-Dorfs überhaupt begriffen, welche großen Chancen ein Europa hat, das sich “Einheit in Vielfalt” auf die Fahnen schreibt. Wie man Vielfalt gestalten und zulassen kann, wo sich jeder in seiner Muttersprache und Kommunität entfalten kann; wo gleichzeitig aber ein gemeinsames Wertefundament herrscht, auf dem man eine Gemeinschaft errichten kann. Diese Erfahrung ist in Temeswar tief – und Europa hat sie dringend nötig.

KNA: Steht Ihr Amt symbolisch für das neue Verhältnis zwischen Ost und West?

Fritz: Es ist auf jeden Fall ein Zeichen, dass eine Stadt in dieser Region mit großer Selbstverständlichkeit einen Bürgermeister gewählt hat, der keinen rumänischen Pass hat. Und das sicher nicht in erster Linie aufgrund meiner Nationalität, sondern weil es vielleicht für viele Wählerinnen und Wähler auch eine Bestätigung der eigenen europäischen und multikulturellen Identität war.

KNA: Teilen Sie die Sorge einiger Experten, Russland und China könnten ihren Einfluss am Balkan ausbauen, falls die EU nicht handelt?

Fritz: Wir dürfen nicht den Fehler machen, Osteuropäer als hilflose und manipulierbare Opfer zu sehen, die der Westen retten muss, um nicht in die Krallen Wladimir Putins zu fallen. Hier muss man aufpassen, mit welchen Nuancen man arbeitet. Aber natürlich stellt sich die Frage, wie sich Respekt vor dem Potenzial dieser Region politisch und wirtschaftlich ausdrückt. Es kann immer sein, dass sich andere den Eindruck von Respektlosigkeit zunutze machen. Und auch, dass sich Länder woanders hinwenden, wenn sie das Gefühl haben, auf einer europäischen Ebene nicht gehört zu werden.